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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sah sie nichts – kein gemeinsames Heim mit Norris, keine Kinder, kein Familienglück. Wieso war die Zukunft auf einmal verschwunden? Warum konnte sie nicht über diese Nacht hinaussehen?
    Ist dies die einzige Zeit, die uns vergönnt ist?
    »Du wirst auf mich warten, nicht wahr?«, flüsterte er.
    »Immer.«
    »Ich weiß nicht, was ich dir bieten kann, außer einem Leben auf der Flucht. Immer gehetzt, immer auf der Hut vor Kopfgeldjägern. Das hast du nicht verdient.«
    »Du auch nicht.«
    »Aber du hast eine Wahl, Rose. Ich habe solche Angst, dass du eines Tages aufwachen und deine Entscheidung bereuen könntest. Fast wäre es mir lieber, wir würden uns nie wiedersehen.«
    Das Mondlicht verschwamm vor ihren tränennassen Augen. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

    »Es ist mein Ernst, aber nur, weil du es verdienst, glücklich zu sein. Ich will, dass du eine Chance hast, ein normales Leben zu führen.«
    »Ist es wirklich das, was du willst?«, flüsterte sie. »Dass wir unser Leben getrennt leben?«
    Er schwieg.
    »Du musst es mir jetzt sagen, Norris. Denn wenn du das nicht tust, werde ich immer auf deinen Brief warten. Ich werde warten, bis meine Haare weiß sind und mein Grab geschaufelt ist. Und selbst dann werde ich noch warten...« Ihre Stimme versagte.
    »Sei still. Bitte, sei still.« Er schlang die Arme um sie und zog sie an sich. »Wenn ich wahrhaft selbstlos wäre, würde ich dir sagen, du sollst mich vergessen. Ich würde dir sagen, du sollst dein Glück woanders suchen.« Er lachte bekümmert. »Aber offenbar bin ich doch nicht so edel. Ich bin egoistisch, und ich bin eifersüchtig auf jeden Mann, der dich je besitzen oder lieben wird. Ich will dieser Mann sein.«
    »Dann sei dieser Mann.« Sie griff nach seinem Hemd und zog ihn zu sich. » Sei es.«
    Sie konnte nicht in die Zukunft sehen; sie konnte nicht weiter sehen als diese wenigen Stunden, die vor ihnen lagen, und diese Nacht war vielleicht die einzige Zukunft, die sie je haben würden. Mit jedem Herzschlag konnte sie spüren, wie ihre gemeinsame Zeit verrann, wie sie entschwand, bis nur noch Erinnerungen und Tränen blieben.
    Und so ergriff sie die Zeit, die ihnen noch zusammen blieb, und vergeudete keine Sekunde davon. Mit fahrigen Bewegungen zog sie an den Haken und Schnüren ihres Kleids, und ihr Atem ging schnell und stoßweise, während sie fieberhaft gegen die Zeit ankämpfte. Schon rückte der Morgen näher. Noch nie zuvor hatte sie mit einem Mann geschlafen, aber irgendwie wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie wusste, was ihm gefallen würde, was ihn für immer an sie binden würde.
    Das weiche, milchige Mondlicht schien auf ihre Brüste, auf seine nackten Schultern, auf all die geheimen Stellen,
die sie einander nie gezeigt hatten. Das ist es, was eine Frau ihrem Mann gibt, dachte sie, und obwohl der Schock seines Eindringens ihr den Atem verschlug, jubilierte sie innerlich, denn immer gingen die Triumphe im Leben einer Frau mit Schmerzen einher, beim Verlust ihrer Jungfräulichkeit, bei der Geburt eines jeden Kindes. Du bist jetzt mein Mann.
    Noch bevor der Tag anbrach, hörte sie einen Hahn krähen. Schlaftrunken dachte sie: Verrückter alter Vogel, lässt dich vom Mond täuschen und verkündest eine falsche Morgendämmerung. Aber es war keine falsche Dämmerung, die da so früh schon im Fenster schimmerte, und als sie die Augen aufschlug, sah sie, dass die nächtliche Schwärze einem kalten, trüben Grau gewichen war. Voller Verzweiflung beobachtete sie, wie der Tag immer heller wurde, wie der Himmel sich allmählich blau verfärbte, und sie hätte so gerne den Morgen aufgehalten, hätte sie es nur vermocht; doch schon spürte sie, wie Norris’ Atem sich veränderte, spürte, wie er aus den Träumen auftauchte, in denen er sie so fest umschlungen gehalten hatte.
    Er schlug die Augen auf und lächelte. »Es ist nicht das Ende der Welt«, sagte er, als er ihr kummervolles Gesicht sah. »Wir werden auch das überstehen.«
    Sie blinzelte ihre Tränen weg. »Und wir werden glücklich sein.«
    »Ja.« Er berührte ihr Gesicht. »So unendlich glücklich. Du musst nur daran glauben.«
    »Ich glaube an nichts anderes. Nur an dich.«
    Draußen bellte ein Hund. Norris stand auf und schaute aus dem Fenster. Sie sah ihn dort stehen, sein nackter Rücken umspielt vom Morgenlicht, und sie prägte sich begierig jeden Muskel, jeden Zoll seiner Haut ein. Das wird mein einziger Trost sein, bis ich wieder von ihm höre, dachte sie. Die Erinnerung an

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