Leichenraub
vollkommen andere Reise – eine, die er nicht mit schwerem Herzen, sondern voller Hoffnung antrat. Die ganze Fahrt über lag Roses kleine Hand auf der seinen, eine stumme Versicherung, dass alles nach Plan lief, dass er keinen Verrat fürchten musste. Wie hatte er je das Schlimmste von ihr annehmen können? Dieses Mädchen allein,
dachte er, hat mir die ganze Zeit in unerschütterlicher Treue zur Seite gestanden. Ich bin ihrer nicht würdig.
Sie hatten die Häuser von Cambridge hinter sich gelassen und fuhren durch eine düstere Landschaft mit kahlen Feldern. Die Reise ging nach Norden, in Richtung Somerville und Medford, vorbei an Weilern mit dunklen Häusern, die sich unter dem Wintermond duckten. Erst als sie den Ortsrand von Medford erreichten, bog die Kutsche endlich in einen gepflasteren Hof ein und hielt an.
»Sie werden sich hier einen Tag lang ausruhen«, sagte Constable Lyons, während er den Schlag öffnete und ausstieg. »Morgen werden Sie die Wegbeschreibung zu Ihrem nächsten Zufluchtsort weiter im Norden erhalten.«
Norris stieg aus der Kutsche und starrte zu einem aus Stein erbauten Bauernhaus hinauf. In den Fenstern brannten Kerzen, ein flackernder Willkommensgruß für die Reisenden der Nacht. »Wo sind wir hier?«, fragte er.
Constable Lyons gab keine Antwort. Er ging voran zur Tür, klopfte zwei Mal, wartete eine Weile und klopfte dann noch ein Mal.
Kurz darauf ging die Tür auf, und eine alte Frau mit einer Spitzen-Nachthaube spähte heraus. Sie hob ihre Lampe hoch, um die Gesichter der Besucher sehen zu können.
»Wir haben einen Reisenden«, sagte Constable Lyons.
Die Frau musterte Norris und Rose stirnrunzelnd. »Die zwei da sind aber sehr ungewöhnliche Flüchtlinge.«
»Die Umstände sind auch sehr ungewöhnlich. Ich bringe sie auf persönlichen Wunsch von Dr. Grenville. Sowohl Mr. Garrison als auch Dr. Sewall haben zugestimmt, und auch Mr. Wilson hat sein Einverständnis erklärt.«
Die alte Frau nickte schließlich und trat zur Seite, um die drei Besucher einzulassen.
Norris betrat eine alte Küche, deren Decke vom Ruß unzähliger Herdfeuer geschwärzt war. Eine Wand wurde von einem gewaltigen gemauerten Kamin beherrscht, in dem noch die Asche des abendlichen Feuers glomm. Von der Decke hingen
Bündel von Kräutern herab, getrockneter Lavendel und Ysop, Wermut und Salbei. Rose drückte Norris’ Hand und deutete zu dem geschnitzten Emblem hinauf, das am Querbalken befestigt war. Ein Pelikan.
Constable Lyons sah, wohin ihre Blicke gingen, und sagte: »Das ist ein uraltes Symbol, Mr. Marshall, und eines, das wir verehren. Der Pelikan ist das Sinnbild der Selbstaufopferung für ein höheres Gut. Er erinnert uns an das Motto: Wie wir geben, so werden wir empfangen.«
Die alte Frau fügte hinzu: »Es ist das Siegel unseres Schwesternordens. Des Ordens der Rosen von Saron.«
Norris wandte sich zu ihr um. »Wer sind Sie? Was ist das hier für ein Haus?«
»Wir sind Rosenkreuzer, Sir. Und dies ist eine Herberge für Reisende. Reisende, die eine Zufluchtsstätte benötigen.«
Norris dachte an das bescheidene Reihenhaus in der Acorn Street mit den in Stein gemeißelten Pelikanen am Türsturz. Er erinnerte sich, dass William Lloyd Garrison einer der Besucher an jenem Abend gewesen war. Und er erinnerte sich auch an das Gerede unter den Ladenbesitzern der Gegend, die Gerüchte über Fremde, die dort nach Einbruch der Dunkelheit gesehen wurden, in einem Viertel, das auf Anordnung von Constable Lyons von den Patrouillen der Nachtwache zu meiden war.
»Es sind Abolitionisten«, sagte Rose. »Das hier ist ein Versteck für entflohene Sklaven.«
»Eine Zwischenstation«, erklärte Lyons. »Eine von vielen, die die Rosenkreuzer auf dem Weg vom Süden hinauf nach Kanada eingerichtet haben.«
»Sie gewähren Sklaven Unterschlupf?«
»Kein Mensch ist ein Sklave«, sagte die alte Frau. »Kein Mensch hat das Recht, einen anderen zu besitzen. Wir sind alle frei.«
»Jetzt werden Sie verstehen, Mr. Marshall«, sagte Constable Lyons, »warum dieses Haus und das in der Acorn Street niemals erwähnt werden dürfen. Dr. Grenville hat uns versichert,
dass Sie ein Befürworter der Sklavenbefreiung sind. Sollten Sie je gefasst werden, dann dürfen Sie kein Wort über diese Stützpunkte verraten, denn Sie würden sonst unzählige Menschen in Lebensgefahr bringen. Menschen, die schon genug Qualen für zehn Menschenleben erlitten haben.«
»Ich schwöre Ihnen, ich werde nichts preisgeben.«
»Es ist
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