Leichenraub
doch, dass er etwas Zwielichtiges an sich hat. Ich konnte das Böse direkt spüren .«
»Ich auch!«, rief Gwen und schüttelte sich. »An dem Morgen in der Kirche, als ich neben ihm saß – also, da ist es mir eiskalt den Rücken runtergelaufen.«
Schlagartig wandte Wendell seine Aufmerksamkeit wieder den Schwestern zu. »Sprechen Sie von Mr. Marshall?«
»Aber natürlich. Alle reden doch nur noch von ihm. Aber Sie waren ja die letzten paar Tage in Cambridge, da haben Sie den ganzen Klatsch verpasst.«
»Ich habe auch in Cambridge genug davon gehört, vielen Dank.«
»Ist es nicht shocking ?«, sagte Kitty. »Die Vorstellung, dass
wir mit einem Mörder diniert und getanzt haben? Und mit solch einem Mörder? Einem Mann das Gesicht abzuziehen! Seinem Opfer die Zunge herauszuschneiden!«
Ich kenne da zwei Damen, denen ich mit Vergnügen die Zungen herausschneiden würde.
»Ich habe gehört«, übernahm Gwen mit vor Eifer glänzenden Augen, »dass er eine Komplizin hat. Ein irisches Mädchen.« Sie senkte die Stimme, ehe sie das anstößige Wort aussprach: »Eine Abenteurerin .«
»Dann haben Sie Unsinn gehört!«, fuhr Wendell scharf dazwischen.
Gwen starrte ihn nur an, schockiert über seine unverblümte Widerrede.
»Ihr albernen Mädchen habt doch keine Ahnung, wovon ihr redet. Alle beide nicht.«
»O je«, warf Edwards Mutter rasch ein, »ich fürchte, die Teekanne ist schon wieder leer. Ich denke, ich lasse uns noch etwas kommen.« Sie griff nach einer Glocke und läutete energisch.
»Aber wir wissen sehr wohl, wovon wir reden, Mr. Holmes«, protestierte Kitty. Ihr Stolz stand nun auf dem Spiel, und das drängte alle gespielte Höflichkeit in den Hintergrund. »Wir haben Quellen, die der Nachtwache sehr nahe stehen. Mit intimsten Kenntnissen...«
»Das geschwätzige Weib von irgendeinem Wachoffizier, nehme ich an.«
»Oh, diese Bemerkung war aber gar nicht gentlemanlike!«
Mrs. Kingston läutete erneut nach dem Personal, diesmal fast schon verzweifelt. »Wo steckt nur dieses Mädchen? Wir brauchen mehr Tee!«
»Wendell«, warf Edward ein, um die Wogen zu glätten, »du musst dich doch nicht angegriffen fühlen. Das ist nur leeres Gerede.«
» Nur? Sie reden über Norris. Du weißt genauso gut wie ich, dass er nicht fähig ist, solche Abscheulichkeiten zu begehen.«
»Aber warum ist er dann davongelaufen?«, fragte Gwen. »Warum ist er von dieser Brücke gesprungen? So handelt doch nur jemand, der schuldig ist.«
»Oder Angst hat.«
»Wenn er unschuldig ist, sollte er hierbleiben und sich verteidigen.«
Wendell lachte. »Gegen Leute wie Sie?«
»Also wirklich, Wendell«, sagte Edward. »Ich glaube, wir sollten besser das Thema wechseln.«
»Wo ist bloß dieses Mädchen?«, rief Mrs. Kingston und sprang auf. Sie rauschte zur Tür und rief: »Nellie, bist du taub? Nellie! Du bringst uns jetzt auf der Stelle noch eine Kanne Tee!« Sie knallte die Tür zu und stampfte zu ihrem Stuhl zurück. »Ich sage Ihnen, es ist geradezu unmöglich, heutzutage anständiges Personal zu finden.«
Die Welliver-Schwestern waren in beleidigtes Schweigen verfallen und mieden es geflissentlich, in Wendells Richtung zu schauen. Er hatte die Grenze dessen überschritten, was sich für einen Gentleman schickte, und dies war seine Strafe: Er wurde ignoriert, und niemand richtete das Wort an ihn.
Als ob mich das juckt, dachte er, ob irgendwelche dummen Gänse mit mir reden wollen. Er stellte seine Tasse ab und sagte: »Vielen Dank für den Tee, Mrs. Kingston. Aber ich fürchte, ich muss jetzt gehen.« Er stand auf, und Edward tat es ihm gleich.
»Oh, aber es kommt gleich eine neue Kanne.« Sie blickte zur Tür. »Wenn dieses schusslige Mädchen endlich seine Arbeit macht.«
»Sie haben vollkommen recht«, sagte Kitty, wobei sie Wendells Existenz demonstrativ ignorierte. »Man kann heutzutage kein brauchbares Personal mehr finden. Ich sage Ihnen, unsere Mutter hatte ja solche Probleme letzten Mai, nachdem unser Stubenmädchen uns verlassen hatte. Sie war erst drei Monate bei uns, da ist sie durchgebrannt, um zu heiraten, einfach so, ohne Vorankündigung. Hat uns schlicht auf dem Trockenen sitzen lassen.«
»Wie unverantwortlich.«
»Guten Tag, Mrs. Kingston«, sagte Wendell. »Miss Welliver, Miss Welliver.«
Seine Gastgeberin verabschiedete ihn mit einem Nicken, doch die beiden Mädchen nahmen keine Notiz von ihm. Sie plapperten einfach weiter, während er und Edward zur Tür gingen.
»Und Sie wissen ja, wie
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