Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
nachlaufen.«
    »Sie sprachen von diesen Kartons, Mr. Page.«
    »Oh, ja. Ich bin da auf einige interessante Dokumente von historischer Bedeutung gestoßen. Und ich frage mich, ob ich den Schlüssel zum Rätsel der Identität dieser alten Gebeine gefunden habe.«
    »Was steht in diesen Dokumenten?«
    »Es handelt sich um Briefe und Zeitungen. Ich habe sie alle hier bei mir zu Hause. Sie können sie sich jederzeit gerne anschauen, falls Sie mal Lust haben, nach Maine heraufzukommen.«
    »Das ist eine furchtbar lange Fahrt, nicht wahr?«
    »Nicht, wenn Sie wirklich interessiert sind. Mir ist das ohnehin vollkommen gleich. Aber da es hier um Ihr Haus geht, um Menschen, die dort einmal gelebt haben, dachte ich, die Geschichte würde Sie vielleicht faszinieren. Mich fasziniert sie jedenfalls. Sie klingt abstrus, aber ich habe hier einen Zeitungsartikel, der sie zu belegen scheint.«
    »Was ist das für ein Artikel?«
    »Es geht um den brutalen Mord an einer Frau.«
    »Wo? Wann?«
    »In Boston. Es geschah im Herbst 1830. Wenn Sie nach Maine kommen, Miss Hamill, können Sie die Dokumente selbst lesen. Über die merkwürdige Geschichte von Oliver Wendell Holmes und dem West End Reaper.«

6
    1830
     
    Rose zog sich das Umschlagtuch über den Kopf, band es fest zum Schutz vor der Novemberkälte und trat vor die Tür. Sie hatte die kleine Meggie in der Entbindungsstation zurückgelassen, wo sie gierig an der Brust einer anderen jungen Mutter trank. Heute Abend verließ Rose das Krankenhaus zum ersten Mal seit zwei Tagen. Die Luft war neblig und feucht, doch Rose sog sie mit einem Gefühl der Erleichterung ein, froh um jede Minute, die sie den Gerüchen der Krankenstation und dem Wimmern und Wehklagen der Frauen entkommen konnte. Auf der Straße hielt sie einen Moment inne und atmete tief ein, um den Gifthauch der Krankheit aus ihrer Lunge zu waschen, und sie roch den Fluss und das Meer, hörte das Rumpeln einer Kutsche, die im Nebel vorbeifuhr. Ich war so lange mit den Sterbenden eingesperrt, dachte sie, dass ich vergessen habe, wie es ist, unter den Lebenden zu wandeln.
    Eilig machte sie sich auf den Weg durch den Nebel und die Kälte, die ihr bis in die Knochen drang. Ihre Schritte hallten von den Backsteinmauern wider, als sie durch das Gewirr von Gassen dem Hafen zustrebte. In dieser unwirtlichen Nacht begegnete sie nur wenigen Menschen, und sie zog sich das Tuch noch fester um die Schultern, als wäre es eine Tarnkappe, die sie vor feindseligen Blicken aus verborgenen Winkeln schützen könnte. Sie beschleunigte ihren Schritt, und ihr Atem schien unnatürlich laut, verstärkt durch den dichter werdenden Nebel, der immer undurchdringlicher wurde, je näher sie ihrem Ziel kam. Und dann vernahm sie plötzlich, durch das Brausen ihres eigenen Atems hindurch, hinter sich das Geräusch von Schritten.

    Sie blieb stehen und drehte sich um.
    Die Schritte kamen näher.
    Rose wich zurück; ihr Herz klopfte wie wild. Aus den wirbelnden Nebelschwaden tauchte dunkel eine wabernde Form auf, die sich allmählich zu einer festen Gestalt wandelte – einer Gestalt, die direkt auf sie zukam.
    Eine Stimme rief: »Miss Rose! Miss Rose! Sind Sie das?«
    Alle Anspannung wich aus ihren Muskeln. Sie seufzte erleichtert auf, als sie den schlaksigen Jüngling aus dem Nebel auf sich zukommen sah. »Zum Donnerwetter, Billy! Dafür hättest du eine Maulschelle verdient!«
    »Wofür, Miss Rose?«
    »Dafür, dass du mich halb zu Tode erschreckt hast.«
    So betreten, wie er sie ansah, hätte man denken können, dass sie ihn tatsächlich geschlagen hatte. »Das hab ich nicht gewollt«, wimmerte er. Und es stimmte natürlich; dem Burschen konnte man schwerlich eine böse Absicht unterstellen. Alle kannten den einfältigen Billy, aber niemand wollte sich zu ihm bekennen. Er war eine allgegenwärtige und lästige Erscheinung im Bostoner West End, wo er von einem Hof zum nächsten zog auf der Suche nach einem Schlafplatz in Stall oder Scheune, wo er sich seine Mahlzeiten erbettelte und von Resten lebte, die ihm mitleidige Hausfrauen oder Fischhändler überließen. Billy wischte sich mit einer schmutzigen Hand übers Gesicht und sagte in weinerlichem Ton: »Jetzt sind Sie ganz böse auf mich, nicht wahr?«
    »Was machst du um diese Zeit hier draußen?«
    »Ich such mein Hündchen. Das ist verschwunden.«
    Davongelaufen wohl eher, wenn das Tier auch nur für einen Penny Verstand hatte. »Nun, dann hoffe ich, dass du es bald findest«, sagte sie und wandte sich

Weitere Kostenlose Bücher