Leichenraub
ihre Füße taub vor Kälte und wollten ihr kaum noch gehorchen.
Durchfroren und am ganzen Leib zitternd begann sie die Stufen zum Hintereingang zu erklimmen.
Da rutschte plötzlich ihr Schuh weg, und sie sah, dass die Stufe glitschig von einer schwarzen Flüssigkeit war. Überrascht starrte sie auf die dunkle Kaskade, die sich über die Treppe ergossen hatte. Doch erst als sie den Blick hob, um den Ursprung dieses Wasserfalls auszumachen, entdeckte sie den Leichnam der Frau, der dort oben quer auf der Treppe lag, die Röcke über die Stufen gebreitet, einen Arm weit ausgestreckt, wie um den Tod willkommen zu heißen.
Im ersten Moment hörte Rose nur das Trommeln ihres eigenen Herzens, das Rauschen ihres eigenen Atems. Und dann drang das Geräusch eines Schrittes an ihr Ohr, und ein Schatten bewegte sich über ihr wie eine dräuende Wolke, die den Mond verdeckt. Das Blut schien in Roses Adern zu gefrieren. Sie starrte die hoch aufragende Gestalt an.
Was sie sah, war der leibhaftige Sensenmann.
Panische Angst raubte ihr die Stimme, und sie taumelte stumm rückwärts, wäre beinahe gestürzt, als sie auf der letzten Stufe strauchelte. Plötzlich stieß die Kreatur auf sie herab, das wallende schwarze Cape wie ein gewaltiges Schwingenpaar. Sie wirbelte herum, Flucht ihr einziger Gedanke, und sah vor sich den menschenleeren Anger, in dichte Nebelschwaden gehüllt. Eine Hinrichtungsstätte. Wenn ich dorthin laufe, werde ich gewiss sterben.
Sie schwenkte nach links und rannte an der Seite des Gebäudes entlang. Hinter sich konnte sie das Monstrum hören, dessen Schritte immer näher kamen.
Blitzschnell tauchte sie in einen Durchgang ein und gelangte in einen Innenhof. Sie lief sogleich zur nächsten Tür, fand sie aber verschlossen. Verzweifelt trommelte sie mit den Fäusten dagegen und schrie um Hilfe, doch niemand öffnete.
Ich sitze in der Falle.
Hinter ihr knirschte es im Kies. Sie fuhr herum und sah sich ihrem Angreifer gegenüber. In der Dunkelheit konnte sie nur schwarze Schatten ausmachen, die sich bewegten. Sie wich mit dem Rücken zur Tür zurück, und ihr Atem wurde zu einem Schluchzen. Sie dachte an die tote Frau, an den
Wasserfall von Blut auf den Stufen, und sie verschränkte die Arme vor der Brust zu einem schwachen Schild, um ihr Herz zu schützen.
Der Schatten kam immer näher.
Rose zuckte zusammen und wandte das Gesicht ab in Erwartung des ersten Messerstichs. Doch stattdessen hörte sie eine Stimme.
»Miss? Miss, sind Sie verletzt?«
Sie schlug die Augen auf und erblickte die Silhouette eines Mannes. Hinter ihm blinkte in der Dunkelheit ein Licht auf, das allmählich heller wurde. Es war eine Laterne, und sie schwang in der Hand eines zweiten Mannes, der nun näher kam. Der Mann mit der Laterne rief: »Wer ist da draußen? Hallo?«
»Wendell? Hierher!«
»Norris? Was ist das für ein Geschrei?«
»Hier ist eine junge Frau. Sie scheint verletzt zu sein.«
»Was ist mit ihr?«
Die schwankende Laterne kam näher, und das Licht blendete Rose. Sie blinzelte und richtete den Blick auf die Gesichter der Männer, die sie anstarrten. Sie erkannte sie beide, und die beiden erkannten auch Rose.
»Das ist doch – Miss Connolly, nicht wahr?«, sagte Norris Marshall.
Rose schluchzte nur. Ihre Beine knickten plötzlich unter ihr weg, sie glitt an der Wand hinab und landete hart auf den kalten Pflastersteinen.
7
Obleich Norris Mr. Pratt von der Bostoner Nachtwache noch nie zuvor begegnet war, hatte er schon mit Männern wie ihm zu tun gehabt: Männern, denen ihre Autorität so sehr zu Kopfe gestiegen war, dass es sie blind machte für die unbestreitbare Tatsache ihrer eigenen Dummheit. Es war Pratts Arroganz, die Norris am ärgerlichsten fand und die sich sogar im Gang des Mannes ausdrückte. Die Brust gereckt, die Arme in martialischer Manier schwingend, kam er in den Sektionssaal des Krankenhauses stolziert. Mr. Pratt war kein großer Mann, doch er vermittelte den Eindruck, dass er sich für einen solchen hielt. Das einzig Imposante an ihm war sein Schnauzbart, der buschigste, den Norris je gesehen hatte. Es sah aus, als hätte ein Eichhörnchen seine Krallen in Pratts Oberlippe geschlagen und nicht mehr losgelassen. Während der Mann sich mit einem Bleistift Notizen machte, musste Norris unwillkürlich diesen Schnauzbart anstarren und sich vorstellen, wie das Eichhörnchen plötzlich davonhüpfte und wie Mr. Pratt seiner flüchtigen Gesichtsbehaarung nachsetzte.
Schließlich sah Pratt von
Weitere Kostenlose Bücher