Leichenraub
er.
Pratt hatte eine lässige Haltung eingenommen, das Kinn vorgereckt in der großspurigen Pose eines Mannes, der viel zu sehr von sich eingenommen ist, als dass er sich von so einer Kleinigkeit wie dem Anblick einer Leiche aus der Fassung bringen ließe. Doch als Dr. Crouch das Laken zurückschlug, schnappte Pratt unwillkürlich nach Luft und wich vom Tisch zurück. Obwohl Norris die Tote bereits gesehen und sogar geholfen hatte, sie ins Haus zu tragen, war auch er aufs Neue schockiert über die Art und Weise, wie Agnes Poole massakriert worden war. Sie hatten die Tote nicht ausgezogen; das war auch kaum nötig. Die Klinge hatte die Vorderseite ihres Kleides aufgeschlitzt, sodass ihre Verletzungen offen dalagen – so grässliche Verletzungen, dass Wachmann Pratt erstarrte und keinen Laut hervorbringen konnte. Sein Gesicht war weiß wie Quark.
»Wie Sie sehen«, sagte Dr. Crouch, »wurde das Opfer entsetzlich zugerichtet. Ich wollte warten, bis ein Vertreter der Amtsgewalt zugegen wäre, um die Untersuchung abzuschließen. Doch schon ein flüchtiger Blick genügt, um zu erkennen, dass der Mörder nicht allein den Rumpf aufgeschlitzt hat. Er ist weiter gegangen, sehr viel weiter.« Crouch krempelte die Ärmel hoch und wandte sich dann zu Pratt um. »Wenn Sie sehen wollen, was er angerichtet hat, müssen Sie schon an den Tisch kommen.«
Pratt schluckte. »Ich kann… es ganz gut von hier aus sehen.«
»Das bezweifle ich. Aber wenn Ihr Magen dafür zu schwach
ist, bitte – es ist ja niemandem gedient, wenn Sie uns die Leiche vollspucken.« Er band sich eine Schürze um und fuhr fort: »Mr. Holmes, Mr. Marshall, ich werde Ihre Hilfe benötigen. Das ist eine gute Gelegenheit für Sie, sich die Hände schmutzig zu machen. Nicht jeder Student hat so früh in seiner Ausbildung das Glück.«
Glück war nicht gerade das Wort, das Norris in den Sinn kam, als er in die klaffende Höhle des Rumpfs starrte. Aufgewachsen auf der Farm seines Vaters, war ihm der Geruch von Blut ebenso vertraut wie das Schlachten und Zerlegen von Schweinen oder Ochsen. Er hatte sich oft genug die Hände schmutzig gemacht, wenn er den Knechten geholfen hatte, die Tiere auszuweiden und zu häuten. Er wusste, wie der Tod aussah und wie er roch, denn er war bei seiner Arbeit hautnah mit ihm in Berührung gekommen.
Aber dies war ein ganz anderes Gesicht des Todes, ein Gesicht, das ihm allzu vertraut und nahe war. Es war nicht das Herz eines Schweins, nicht die Lunge eines Ochsen, die er da anstarrte. Und in diesen erschlafften Zügen hatte noch vor wenigen Stunden das Leben pulsiert. Wenn er Schwester Poole so vor sich sah, wenn er in ihre glasigen Augen starrte, war es seine eigene Zukunft, die ihm entgegenblickte. Widerstrebend nahm er sich eine Schürze vom Haken an der Wand, band sie um und nahm seine Position an Dr. Crouchs Seite ein. Wendell stand auf der anderen Seite des Tisches. Obgleich zwischen ihnen ein blutiger Leichnam lag, verriet seine Miene keine Spur von Abscheu; stattdessen betrachtete er die Tote mit gespannter Neugier. Bin ich der Einzige, der sich daran erinnert, wer diese Frau war?, fragte sich Norris. Kein angenehmer Mensch, gewiss, aber doch mehr als ein bloßer Kadaver, mehr als eine anonyme Leiche, die es zu sezieren galt.
Dr. Crouch tauchte einen Lappen in eine Schüssel mit Wasser und wischte vorsichtig das Blut von der aufgeschlitzten Haut. »Wie Sie hier erkennen können, meine Herren, muss die Klinge sehr scharf gewesen sein. Das sind ganz saubere
und sehr tiefe Schnitte. Und das Muster – das Muster ist höchst faszinierend.«
»Was meinen Sie damit? Welches Muster?«, fragte Pratt. Seine Stimme klang merkwürdig gedämpft und nasal.
»Wenn Sie sich bequemen würden, an den Tisch heranzutreten, könnte ich es Ihnen zeigen.«
»Ich muss mir Notizen machen, sehen Sie das nicht? Beschreiben Sie es mir einfach.«
»Eine bloße Beschreibung wird der Sache nicht gerecht. Vielleicht sollten wir doch nach Constable Lyons schicken? Es muss doch irgendjemanden in der Wache geben, der sich nicht von seinem schwachen Magen an der Erfüllung seiner Pflicht hindern lässt!«
Pratt lief hochrot an. Jetzt endlich näherte er sich dem Tisch und stellte sich neben Wendell. Er warf einen Blick in die offene Bauchhöhle und wandte sich gleich wieder ab. »Also gut. Ich habe es gesehen.«
»Aber sehen Sie auch das Muster – sehen Sie, wie absonderlich es ist? Ein Schnitt quer durch das Abdomen, von einer Seite zur anderen. Und
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