Leichenraub
sich auf, in der Hand das abgetrennte Darmende.
»Um Ihnen die Wunder des menschlichen Verdauungssystems zu demonstrieren, möchte ich nun meinen Assistenten bitten, das andere Ende des Dünndarms zu nehmen und damit so weit wie möglich den Mittelgang hinaufzugehen.«
Edward zögerte, den Blick voller Abscheu auf den Eimer gerichtet. Schließlich schnitt er eine Grimasse, griff in den Berg von Eingeweiden und zog das abgetrennte Ende hervor.
»Gehen Sie los, Mr. Kingston. Immer auf den Ausgang zu.« Edward begann den Mittelgang hinaufzugehen und zog dabei sein Ende des Dünndarms hinter sich her. Norris stieg der üble Geruch faulender Innereien in die Nase, und er sah, wie der Student auf der anderen Seite des Gangs sich die Nase zuhielt, um nicht den Gestank einatmen zu müssen. Und immer noch ging Edward weiter, mit dem stinkenden Schlauch des Dünndarms im Schlepptau, bis dieser sich schließlich vom Boden hob und straff spannte. Tropfen spritzten auf den Boden.
»Beachten Sie die Länge«, sagte Dr. Sewall. »Was wir hier
sehen, sind schätzungsweise sechs Meter Darm. Sechs Meter , meine Herren! Und das ist nur der Dünndarm. Den Dickdarm habe ich noch in situ belassen. Im Bauch eines jeden von Ihnen befindet sich eines dieser höchst wundersamen Organe. Denken Sie daran, während Sie dort sitzen und Ihr Frühstück verdauen. Ganz gleich, was Ihre Stellung im Leben ist, ob Sie nun reich sind oder arm, alt oder jung, in Ihrer Bauchhöhle sieht es genauso aus wie bei jedem anderen Mann.«
Und bei jeder Frau, dachte Norris, dessen Blick nicht auf das sezierte Organ, sondern auf den ausgeweideten Leichnam dort unten auf dem Tisch gerichtet war. Selbst von einer solchen Schönheit blieb nach der Sektion kaum mehr als ein Eimer voller Innereien. Wo war die Seele bei alldem? Wo war die Frau, die einmal diesen Körper bewohnt hatte?
»Mr. Kingston, Sie können jetzt zum Podium zurückkommen und den Darm wieder in den Eimer werfen. Als Nächstes wollen wir uns ansehen, wie das Herz und die Lunge in die Brusthöhle eingebettet sind.« Dr. Sewall griff nach einem bedrohlich aussehenden Instrument und klemmte eine Rippe zwischen den stählernen Backen ein. Das Geräusch des brechenden Knochens hallte von den Saalwänden wider. Sewall blickte in die Runde. »Sie können die Thoraxorgane nur richtig sehen, wenn Sie direkt in die Brusthöhle hineinschauen. Ich denke, es wäre das Beste, wenn die Erstsemester sich von ihren Plätzen erheben und für den Rest der Sektion näher herantreten würden. Kommen Sie, verteilen Sie sich um den Tisch herum.«
Norris stand auf. Er saß direkt am Gang und war deshalb einer der Ersten, die den Tisch erreichten. Er starrte hinunter – aber nicht in den Thorax, sondern in das Gesicht der Frau, deren innerste Geheimnisse hier vor einem Saal voller wildfremder Männer enthüllt wurden. Sie war so hübsch, dachte er. Aurnia Tate hatte in der Blüte ihrer Weiblichkeit gestanden.
»Wenn Sie ein wenig näher treten«, sagte Dr. Sewall, »möchte ich Sie zunächst auf einen interessanten Befund im Becken
des Studienobjekts hinweisen. Nach der Größe des Uterus zu schließen, den ich hier mühelos ertasten kann, würde ich sagen, dass diese Frau vor Kurzem erst niedergekommen ist. Obwohl es sich um einen relativ frischen Leichnam handelt, werden Sie den besonders unangenehmen Geruch bemerken, welcher der Bauchhöhle entströmt, sowie die offensichtliche Entzündung des Peritoneums. Unter Berücksichtigung all dieser Befunde bin ich bereit, eine Vermutung bezüglich der wahrscheinlichen Todesursache zu äußern.«
Im Auditorium war plötzlich ein dumpfer Aufschlag zu vernehmen, und gleich darauf hörte man einen Studenten aufgeregt rufen: »Atmet er? Sieh nach, ob er noch atmet!«
»Was ist das Problem?«, rief Dr. Sewall.
»Es ist Dr. Grenvilles Neffe, Sir!«, antwortete Wendell. »Charles ist ohnmächtig geworden!«
In der ersten Reihe stand Professor Grenville auf, sichtlich betroffen von der Nachricht. Rasch eilte er die Stufen hinauf zu Charles und schob die Studenten beiseite, die sich im Mittelgang drängten.
»Es ist nicht weiter schlimm, Sir«, verkündete Wendell. »Charles kommt schon wieder zu sich.«
Unten auf dem Podium seufzte Dr. Sewall. »Ein schwacher Magen ist keine Empfehlung für jemanden, der Medizin studieren möchte.«
Grenville kniete sich neben seinen Neffen und tätschelte ihm die Wangen. »Komm, komm, Junge. Dir ist nur ein bisschen schwindlig geworden. Es
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