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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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ging ums Haus herum. Da Henry nicht zu Hause war, könnte sie wenigstens kurz seinen Meerblick bewundern – falls an diesem Tag überhaupt etwas zu sehen war.
    Über einen Pfad aus Steinplatten gelangte sie in den Garten, der mit Sträuchern und wucherndem Gras zugewachsen
war. Obwohl hier offenbar schon lange kein Gärtner mehr nach dem Rechten gesehen hatte, konnte sie allein an dem kunstvoll ausgeführten Mauerwerk erkennen, dass der Garten einmal ein Schmuckstück gewesen sein musste. Sie sah moosbewachsene Stufen, die bergab führten und im Nebel verschwanden, sowie niedrige Steinmauern, die eine Reihe terrassenförmig angelegter Blumenbeete einfassten. Angelockt vom Rauschen der Wellen begann sie die Stufen hinabzusteigen, vorbei an Büscheln von Thymian und Katzenminze. Das Meer musste jetzt ganz nahe sein, und sie rechnete jeden Moment damit, einen Blick auf den Strand zu erhaschen.
    Sie machte noch einen Schritt und hatte plötzlich keinen Boden mehr unter dem Fuß.
    Ihr stockte der Atem, sie wich zurück und landete hart mit dem Hinterteil auf den Steinstufen. Einen Moment lang saß sie nur da und starrte durch die dahintreibenden Nebelschwaden zu den Felsen in gut sechs Metern Tiefe hinunter. Erst jetzt bemerkte sie die frischen Abbruchkanten links und rechts der Treppe und die frei liegenden Wurzeln eines Baumes, der sich mühsam an der abbröckelnden Steilwand festklammerte. Sie blickte in die Tiefe und dachte: Den Sturz hätte ich überlebt, aber in diesem eiskalten Wasser würde man in kürzester Zeit ertrinken.
    Mit wackligen Knien stieg sie den Hang hinauf und ging zurück zum Haus, und die ganze Zeit fürchtete sie, dass die Klippe plötzlich abbrechen und sie mit in die Tiefe reißen könnte. Sie war fast oben angekommen, als sie den Mann sah, der dort auf sie wartete.
    Er stand leicht gebeugt da, und seine knotigen Finger umklammerten den Griff eines Gehstocks. Schon am Telefon hatte Henry Page sich alt angehört, doch dieser Mann wirkte noch älter: Sein Haar war weiß wie der Nebel, und die Augen hinter den Gläsern seiner Nickelbrille blinzelten angestrengt.
    »Die Treppe ist nicht sicher«, sagte er. »Jedes Jahr bricht eine Stufe ab. Der Boden ist nicht stabil.«

    »Das habe ich auch schon festgestellt«, erwiderte sie, noch außer Atem von dem schnellen Anstieg.
    »Ich bin Henry Page. Und Sie sind Julia Hamill, nehme ich an.«
    »Ich hoffe, es war in Ordnung, dass ich mich ein bisschen umgesehen habe. Sie waren nicht zu Hause.«
    »Ich war die ganze Zeit zu Hause.«
    »Es hat aber niemand aufgemacht.«
    »Sie denken wohl, ich kann die Treppe runterspringen wie ein junger Hüpfer? Ich bin neunundachtzig. Das nächste Mal versuchen Sie’s mal mit ein bisschen Geduld.« Er machte kehrt und ging über die Steinterrasse auf eine Verandatür zu. »Kommen Sie rein. Ich habe schon einen feinen Sauvignon Blanc kaltgestellt. Obwohl bei dem kühlen Wetter vielleicht eher ein Roter angebracht wäre.«
    Sie folgte ihm ins Haus. Als sie durch die Terrassentür trat, dachte sie: Dieses Haus wirkt so uralt wie er selbst. Es roch nach Staub und alten Teppichen.
    Und nach Büchern. In diesem Zimmer mit Meerblick standen Tausende von Büchern dicht an dicht in Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Eine Wand war ganz von einem mächtigen Kamin eingenommen. Obwohl das Zimmer riesig war, ließ der Nebel, der gegen die Panoramafenster wallte, es düster und beengt wirken; ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch ein Dutzend Kartons, die sich in der Mitte des Raums neben einem massiven Esstisch aus Eichenholz stapelten.
    »Das sind ein paar von Hildas Kartons«, sagte er.
    »Ein paar?«
    »Im Keller sind noch zwei Dutzend mehr, die ich nicht mal angerührt habe. Vielleicht könnten Sie sie für mich rauftragen; mit dem Stock ist das ein bisschen schwierig. Ich würde ja meinen Großneffen bitten, mir zu helfen, aber er hat immer so viel zu tun.«
    Ich vielleicht nicht?
    Er schlurfte hinüber zum Esstisch, wo der Inhalt eines der
Kartons auf der zerkratzten Tischplatte ausgebreitet war. »Wie Sie sehen, war Hilda von der Sammelwut befallen. Konnte nichts wegwerfen. Wenn man so lange lebt wie sie, hat man da am Ende einen ziemlichen Haufen Krempel beisammen. Aber wie ich festgestellt habe, ist dieser Krempel ziemlich interessant. Es ist alles völlig durcheinander. Die Umzugsfirma, die ich beauftragt habe, hat die Sachen einfach aufs Geratewohl in Kartons geworfen. Diese alten Zeitungen hier stammen

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