Leichenraub
den Tod eines Kindes zu beklagen. Wo ist deine Trauergemeinde, Aurnia?
Da erst fiel ihr Mary Robinson wieder ein. Sie blickte sich um, konnte die Krankenschwester aber nirgends entdecken. Die Ankunft des streitlustigen Eben hatte sie wohl vertrieben. Noch etwas, was Rose ihm immer nachtragen würde.
Regentropfen besprengten ihr Gesicht. Die anderen Trauernden strömten mit gesenkten Köpfen zum Friedhofstor hinaus, zu den Kutschen und den warmen Mahlzeiten, die auf sie warteten. Nur Rose verweilte noch und hielt Meggie fest im Arm, während der Regen den Boden aufweichte.
»Schlafe wohl, mein Herz«, flüsterte sie.
Sie hob ihren Ranzen auf und las Aurnias Sachen von der Erde auf. Dann verließ sie mit Meggie den Friedhof von St. Augustine und schlug den Weg zu den Elendsquartieren von South Boston ein.
10
»Die Geburtshilfe ist jener Zweig der Medizin, der sich mit der Empfängnis und ihren Folgen befasst. Und heute haben Sie von einigen dieser oftmals leider tragischen Folgen gehört …«
Schon von der großen Treppe aus, die zum Hörsaal führte, konnte Norris Dr. Crouchs dröhnende Stimme hören. Er eilte die Stufen hinauf und ärgerte sich, dass er so spät zu seiner Morgenvorlesung kam. Aber die vergangene Nacht hatte er wieder einmal in der ungehobelten Gesellschaft von Schielaugen-Jack verbracht. Diesmal hatte ihr Beutezug sie nach Süden geführt, nach Quincy. Die ganze Fahrt über hatte Jack über seinen Rücken geklagt – der einzige Grund, weshalb er Norris gebeten hatte, ihn auf dieser jüngsten Tour zu begleiten. Sie waren erst weit nach Mitternacht nach Boston zurückgekehrt, mit nur einem einzigen Exemplar auf dem Wagen, das zudem in einem so schlechten Zustand war, dass Dr. Sewall angesichts des üblen Geruchs das Gesicht verzogen hatte, als er die Plane zurückschlug. »Der hat ja schon tagelang in der Erde gelegen«, hatte Sewall moniert. »Können Sie denn nicht Ihre Nasen gebrauchen? Allein der Gestank hätte Sie doch schon warnen müssen!«
Norris hing dieser Gestank immer noch in den Haaren und in den Kleidern. Man wurde ihn nie ganz los; wie Maden bohrte er sich unter die Haut, bis jeder Atemzug damit verpestet war und man lebendes nicht mehr von totem Fleisch unterscheiden konnte. Er roch ihn auch jetzt, als er die Treppe zum Hörsaal hinaufstieg, wie ein wandelnder Leichnam, der seinen Verwesungsgeruch hinter sich herzieht. Er öffnete die Tür und schlüpfte lautlos ins Auditorium. Unten auf dem Podium schritt Dr. Crouch dozierend auf und ab.
»… obgleich ein separater Zweig der Medizin, der sich von der Chirurgie und der Heilkunde unterscheidet, erfordert die Praxis der Geburtshilfe Kenntnisse der Anatomie und Physiologie, der Pathologie und …« Dr. Crouch hielt inne und fixierte Norris, der auf der Suche nach einem freien Platz erst ein paar Schritte den Mittelgang hinuntergekommen war. Die plötzliche Stille fesselte die Aufmerksamkeit des ganzen Auditoriums in dramatischerer Weise, als es der lauteste Zuruf vermocht hätte. Wie ein vieläugiges Monstrum drehten die Studenten sich um und starrten Norris an, der wie angewurzelt stehen blieb.
»Mr. Marshall«, sagte Crouch. »Es ehrt uns, dass Sie sich für unsere Gesellschaft entschieden haben.«
»Ich bitte um Verzeihung, Sir! Ich habe keine Entschuldigung vorzubringen.«
»So, so. Nun, suchen Sie sich einen Platz!«
Norris entdeckte einen freien Stuhl in der Reihe direkt vor Wendell und seinen Freunden und setzte sich rasch hin.
Auf dem Podium räusperte Crouch sich und fuhr fort. »So möchte ich also zum Schluss kommen, meine Herren, und Sie mit der folgenden Überlegung entlassen: Der Arzt ist manchmal das einzige Bollwerk gegen die Ausbreitung der Finsternis. Wenn wir die düsteren Krankenstuben betreten, dann kommen wir, um eine Schlacht zu schlagen und um jenen bedauernswerten Seelen, deren Leben an einem seidenen Faden hängt, himmlische Hoffnung und Zuversicht zu bringen. Seien Sie sich also stets jenes heiligen Vertrauens bewusst, das bald schon auf ihren Schultern ruhen könnte.« Crouch baute sich mit seinen kurzen Beinen in der Mitte des Podiums auf, und seine Worte klangen wie ein Aufruf zum Kreuzzug. »Bleiben Sie Ihrer Berufung treu! Seien Sie jenen treu, die ihr Leben in Ihre kundigen Hände legen!«
Crouch blickte erwartungsvoll zu seinem Publikum auf, das ein paar Sekunden lang in tiefem Schweigen verharrte. Dann erhob Edward Kingston sich von seinem Platz, um laut und demonstrativ zu
Weitere Kostenlose Bücher