Leichenraub
aus den Jahren 1840 bis 1910. Irgendeine Ordnung ist nicht zu erkennen. Ich könnte wetten, dass irgendwo sogar noch ältere herumliegen, aber wir werden sämtliche Kartons öffnen müssen, um sie zu finden. Könnte Wochen dauern, bis wir mit all dem durch sind.«
Julia, deren Blick auf den Boston Daily Advertiser vom 10. Januar 1840 geheftet war, registrierte plötzlich, dass er das Wort »wir« benutzt hatte. Sie sah ihn an. »Es tut mir leid, Mr. Page, aber ich hatte nicht vor, besonders lange zu bleiben. Könnten Sie mir einfach nur zeigen, was Sie zu meinem Haus gefunden haben?«
»Ach ja. Hildas Haus.« Zu ihrer Verblüffung ließ er sie stehen und schlurfte davon. Sie hörte das dumpfe Tock-tock seines Gehstocks auf dem Holzfußboden, und dann rief er von nebenan: »Es wurde 1880 erbaut. Für eine Vorfahrin von mir namens Margaret Tate Page.«
Julia folgte Henry in eine Küche, die aussah, als sei sie seit den Fünfzigerjahren nicht mehr renoviert worden. Die Schränke waren mit einer Schmutzschicht überzogen, der Herd war mit Spritzern von altem Fett und, wie es aussah, eingetrockneter Tomatensauce bespritzt.
Henry kramte im Kühlschrank und zog eine Flasche Weißwein heraus.
»Das Haus wurde von Generation zu Generation weitervererbt. Allesamt Hamsterer, genau wie Hilda«, meinte er, während er einen Korkenzieher in die Flasche drehte. »Und deshalb haben wir jetzt diese Fundgrube an Dokumenten. Das Haus war die ganzen Jahre über im Besitz unserer Familie.«
Der Korken glitt mit einem Plopp aus der Flasche, und er sah sie an. »Bis Sie es gekauft haben.«
»Die Gebeine in meinem Garten wurden wahrscheinlich vor 1880 vergraben«, sagte sie. »Das sagte mir die Anthropologin von der Universität. Das Grab ist älter als das Haus.«
»Mag sein, mag sein.« Er nahm zwei Weingläser aus dem Schrank.
»Was Sie in diesen Kartons gefunden haben, wird uns nichts über die Gebeine verraten.« Und ich vergeude hier nur meine Zeit.
»Wie können Sie das sagen? Sie haben sich ja die Papiere noch gar nicht angeschaut.« Er schenkte Wein ein und hielt ihr ein Glas hin.
»Ist es nicht ein bisschen früh am Tag für Alkohol?«, fragte sie.
»Früh?« Er schnaubte. »Ich bin neunundachtzig Jahre alt und habe vierhundert Flaschen der erlesensten Weine im Keller, die ich alle noch zu leeren gedenke. Ich mache mir eher Sorgen, dass es zu spät sein könnte, mit dem Trinken anzufangen. Also leisten Sie mir bitte Gesellschaft. Die beste Flasche schmeckt noch besser, wenn man sie teilt.«
Sie nahm das Glas.
»Also, wo waren wir stehen geblieben?«
»Ich sagte, das Grab der Frau ist älter als das Haus.«
»Ah ja.« Er nahm sein Glas und schlurfte zurück in die Bibliothek. »Das mag sehr wohl sein.«
»Ich kann mir also nicht vorstellen, dass in diesen Kartons irgendetwas ist, was mir verraten könnte, wer sie war.«
Er kramte in den Papieren auf dem Esstisch und zog ein Blatt heraus, das er vor sie hinlegte. »Hier, Ms. Hamill. Hier ist der entscheidende Hinweis.«
Sie sah auf den handgeschriebenen Brief, der auf den 20. März 1888 datiert war.
20. März 1888
Liebste Margaret,
ich danke Dir für Deine freundlichen Zeilen, in denen Du mir so aufrichtig Dein Beileid zum Tod meiner geliebten Amelia aussprichst. Dieser Winter ist eine sehr schwere Zeit für mich gewesen – bringt doch, wie es scheint, jeder Monat Nachricht vom Hinscheiden eines weiteren alten Freundes, dahingerafft von Krankheit und Altersschwäche. Nun muss ich mit tiefer Schwermut auf die rasch dahinschwindenden Jahre blicken, die mir noch verbleiben.
Mir ist klar geworden, dass dies vielleicht meine letzte Gelegenheit ist, auf ein schwieriges Thema zu sprechen zu kommen, das ich schon längst hätte anschneiden sollen. Ich habe immer gezögert, es zu erwähnen, da ich wusste, dass Deine Tante es für das Klügste hielt, es Dir vorzuenthalten …
Julia blickte auf. »Das wurde 1888 geschrieben. Also lange nachdem die Gebeine vergraben wurden.«
»Lesen Sie weiter«, sagte er. Und das tat sie.
Fürs Erste lege ich Dir den Zeitungsausschnitt bei, den ich bereits erwähnte. Falls Du nichts weiter von der Sache zu hören wünschst, so lass es mich wissen, und ich werde das Thema nie wieder ansprechen. Aber wenn Dich die Geschichte Deiner Eltern ernsthaft interessiert, dann werde ich bei nächster Gelegenheit wieder zur Feder greifen. Und Du wirst die Geschichte – die wahre Geschichte – von Deiner Tante und dem West End Reaper
Weitere Kostenlose Bücher