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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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als Dr. Sewall nun nach dem Zipfel des Lakens griff. Er ahnte bereits, wer darunter lag, und ihm graute vor dem Moment, da die halb verweste Leiche enthüllt würde, die er und Schielaugen-Jack letzte Nacht ausgegraben hatten. Doch als Sewall das Tuch zurückschlug, war es nicht der stinkende männliche Leichnam, der zum Vorschein kam.
    Es war eine Frau. Und selbst von seinem Platz im Auditorium aus erkannte Norris sie wieder.
    Lockiges rotes Haar wallte über die Kante des Tisches. Ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt, sodass sie ihr Gesicht mit den halb geschlossenen Augen und den leicht geöffneten Lippen den Zuhörern zuwandte. Im Hörsaal war es so still geworden, dass Norris das Pochen seines eigenen Herzschlags in den Ohren hören konnte. Diese Tote ist Rose Connollys Schwester. Die Schwester, die ihr Ein und Alles war. Wie in Gottes Namen war die geliebte Schwester des Mädchens auf dem Seziertisch der Anatomie gelandet?
    Mit ruhiger Hand nahm Dr. Sewall ein Skalpell vom Tablett und trat an die Seite des Leichnams. Er schien das betroffene Schweigen, das sich über den Saal gelegt hatte, überhaupt nicht zu registrieren, und wie er so sein Studienobjekt betrachtete, hätte man ihn für irgendeinen Handwerker halten können, der sich an seine Arbeit machte. Er sah Edward an, der reglos am Fußende des Tisches stand. Zweifellos hatte auch Edward die Tote wiedererkannt.
    »Ich rate Ihnen, eine Schürze umzulegen.«
    Edward schien ihn nicht zu hören.
    »Mr. Kingston, wenn Sie sich nicht den feinen Anzug ruinieren
wollen, den Sie da tragen, schlage ich vor, dass Sie Ihre Jacke ausziehen und sich eine Schürze umbinden. Und dann kommen Sie her und assistieren mir.«
    Selbst der arrogante Eddie hatte, wie es schien, die Nerven verloren, und er schluckte vernehmlich, als er die vom Hals bis zu den Knöcheln reichende Schürze umband und seine Ärmel hochkrempelte.
    Dr. Sewall setzte das Skalpell an. Es war ein roher Schnitt, der vom Brustbein bis zum Becken ging. Die Haut teilte sich, und der Inhalt der Bauchhöhle quoll hervor. Die Darmschlingen glitten aus dem offenen Abdomen und hingen triefend über den Rand des Tisches herab.
    »Den Eimer«, sagte Sewall. Er blickte zu Edward auf, der nur entsetzt auf die klaffende Wunde starrte. »Würde vielleicht irgendjemand die Güte haben, den Eimer hinzustellen? Mein Assistent hier scheint im Moment zu keiner zielgerichteten Bewegung in der Lage zu sein.«
    Nervöses Gelächter breitete sich im Auditorium aus angesichts der öffentlichen Zurechtstutzung des überheblichen Kommilitonen. Errötend griff Edward nach dem Holzeimer, der auf dem Tablett stand, und stellte ihn auf den Boden, um die tropfenden Darmschlingen aufzufangen, die aus dem Bauchraum der Leiche quollen.
    »Über den Eingeweiden«, erklärte Dr. Sewall, »liegt eine Hülle, die Omentum oder Bauchnetz genannt wird. Ich habe es soeben durchtrennt und die Gedärme freigelegt, die sie nun aus dem Abdomen herausfallen sehen. Bei älteren Herrschaften, zumal bei solchen, die allzu ausgiebig den Freuden der Tafel gefrönt haben, kann dieses Netz sehr stark verfettet sein. Aber bei diesem jungen weiblichen Leichnam finde ich nur ganz spärliche Ablagerungen.« Er hob das fast durchsichtige Bauchnetz an und hielt es mit blutigen Händen hoch, sodass alle es sehen konnten. Dann beugte er sich über den Tisch und warf die Gewebemasse in den bereitstehenden Eimer, wo sie mit einem feuchten Klatschen landete.
    »Als Nächstes werde ich den Darm entfernen, der uns so
gründlich den Blick auf die Organe darunter verstellt. Während jeder Abdecker, der schon einmal eine Kuh oder ein Pferd geschlachtet hat, mit der enormen Länge der Gedärme vertraut ist, sind junge Studenten bei ihrer ersten Sektion häufig erstaunt, wenn sie damit konfrontiert werden. Zunächst werde ich den Dünndarm resezieren, indem ich ihn auf der Höhe des Pylorus oder Magenpförtners durchtrenne …«
    Er beugte sich mit dem Skalpell in der einen Hand über den Leichnam, und als er sich wieder aufrichtete, hielt er das abgetrennte Ende des Dünndarms in der anderen. Er ließ es über den Rand des Tisches gleiten, und Edward fing es mit der bloßen Hand auf, bevor es auf den Boden klatschen konnte. Angewidert verzog er das Gesicht und warf das Darmende hastig in den Eimer.
    »Jetzt werde ich das andere Ende heraustrennen, dort, wo der Dünndarm zum Dickdarm wird, am ileozökalen Übergang.«
    Wieder setzte er das Skalpell an. Wieder richtete er

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