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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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war ein anstrengender Vormittag.«
    Stöhnend setzte Charles sich auf und hielt sich den Kopf. »Mir ist schlecht.«
    »Ich bringe ihn hinaus, Sir«, erbot sich Wendell. »Er kann sicherlich ein wenig frische Luft gebrauchen.«
    »Danke, Mr. Holmes«, sagte Grenville. Als er sich aufrichtete, wirkte er selbst ein wenig wacklig auf den Beinen.
    Das ist uns allen an die Nerven gegangen, selbst den Erfahrensten unter uns.

    Mit Wendells Hilfe stand Charles schwankend auf und ließ sich von ihm zum Ausgang führen. Norris hörte einen der Studenten kichern und sagen: »Natürlich wieder unser Charlie – wer sonst? Wenn einer in Ohnmacht fällt, dann er!«
    Aber es hätte jedem von uns passieren können, dachte Norris, als er sich im Auditorium umsah und in die aschfahlen Gesichter blickte. Welcher normale Mensch könnte ein Gemetzel mit ansehen, wie sie es an diesem Morgen erlebt hatten, und nicht entsetzt sein?
    Und es war noch nicht vorbei.
    Auf dem Podium griff Dr. Sewall wieder zum Skalpell und musterte seine Zuhörerschaft mit kühlem Blick. »Meine Herren – können wir fortfahren?«

11
    Gegenwart
     
    Julia fuhr nach Norden. Sie ließ die Hitze des Bostoner Sommers hinter sich und reihte sich ein in die Autokolonne der Wochenendurlauber, die sich in Richtung Maine wälzte. Als sie die Grenze zu New Hampshire überquerte, war die Temperatur bereits um gute fünf Grad gefallen, und als sie eine halbe Stunde später Maine erreichte, war die Luft schon regelrecht kühl. Bald verschwanden Wälder und Felsküste hinter einer Nebelbank, und je weiter sie nach Norden vordrang, desto grauer wurde die Welt um sie herum. Die Straße schlängelte sich durch eine gespenstische Landschaft mit verschleierten Bäumen und Gehöften, die kurz aus dem Nebel auftauchten und wieder verschwanden.
    Als sie am Nachmittag endlich den kleinen Badeort Lincolnville erreichte, war der Nebel so dicht, dass sie kaum die hoch aufragenden Umrisse der Fähre nach Islesboro ausmachen konnte, die am Pier lag. Henry Page hatte sie gewarnt, dass der Platz für Fahrzeuge begrenzt sein würde, also ließ sie ihren Wagen auf dem Terminal-Parkplatz stehen, nahm ihre Reisetasche aus dem Kofferraum und ging an Bord.
    Sie wusste nicht, welche Aussicht sich normalerweise aus dem Fenster der Fähre bot; heute jedenfalls konnte sie bei der Überfahrt nach Islesboro absolut gar nichts sehen.
    Als sie von Bord ging, tauchte sie in eine verwirrende graue Welt ein. Henry Pages Haus war nur eine Meile Fußweg vom Fährhafen entfernt. »Ein schöner Spaziergang an einem Sommertag«, hatte er gesagt. Aber im dichten Nebel kann einem eine Meile schier endlos vorkommen. Sie ging weit außen am Rand der Straße, um nicht Gefahr zu laufen, überfahren
zu werden, und kletterte vorsichtshalber immer ein Stück die Böschung hinauf, wenn sie ein Fahrzeug kommen hörte. Das ist also der Sommer in Maine, dachte sie, während sie in Shorts und Sandalen fröstelte. Sie hörte die Vögel zwitschern, konnte sie aber nicht sehen. Alles, was sie sah, war der Asphalt zu ihren Füßen und das Gras am Straßenrand.
    Plötzlich tauchte ein Briefkasten vor ihr auf. Er war gründlich durchgerostet und hing an einem krummen Pfosten. Als sie ganz nahe heranging, konnte sie die verblassten Buchstaben an der Seite entziffern: Stonehurst.
    Henry Pages Haus.
    Die einspurige, ungeteerte Zufahrt stieg stetig an durch einen dichten Wald, mit Büschen und niedrigen Ästen, die wie mit Krallen nach vorbeifahrenden Autos zu greifen schienen. Je höher sie kam, desto stärker wurde das Gefühl, dass sie auf dieser einsamen Straße, auf dieser vom Nebel umfangenen Insel festsaß. Das Haus tauchte so plötzlich auf, dass sie erschrocken stehen blieb, als hätte sie gerade in dem weißen Dunst die Umrisse einer unheimlichen Bestie ausgemacht. Es war aus Stein und altem Holz, das nach Jahren in der salzhaltigen Luft einen silbrigen Überzug bekommen hatte. Zwar konnte sie das Meer nicht sehen, doch sie wusste, dass es nicht weit war, denn sie konnte die Wellen an die Felsen schlagen hören, während über ihr die kreischenden Möwen kreisten.
    Sie stieg die ausgetretenen Granitstufen zur Veranda hinauf und klopfte an die Tür. Mr. Page hatte ihr gesagt, dass er zu Hause sein würde, doch niemand öffnete ihr. Sie fror, denn sie hatte keine Jacke mitgenommen, und es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als zum Fährhafen zurückzugehen. Frustriert ließ sie ihre Tasche auf der Veranda stehen und

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