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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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senkte, sah er die Gänsehaut auf seinen bloßen Oberschenkeln.
    »Wir wissen, warum du nicht gekommen bist. Es ist das einzige Gesprächsthema im Krankenhaus – was mit Mary Robinson passiert ist.«
    »Dann weißt du auch, dass ich es bin, der sie gefunden hat.«
    »Das ist jedenfalls die eine Version.«
    Norris blickte erstaunt auf. »Es gibt noch eine andere?«
    »Alle möglichen Gerüchte machen die Runde. Abscheuliche Gerüchte, muss ich dir leider sagen.«
    Norris starrte wieder auf seine nackten Knie. »Würdest du mir bitte meine Hose reichen? Es ist verdammt kalt hier.«
    Wendell warf ihm die Hose zu und wandte sich dann ab, um aus dem Fenster zu schauen. Als Norris sich ankleidete, bemerkte er Blutflecken an den Aufschlägen seiner Hose. Wohin
er auch schaute, überall sah er Mary Robinsons Blut an seinen Kleidern.
    »Was erzählen sie sich über mich?«, fragte er.
    Wendell drehte sich zu ihm um. »Zum Beispiel, was für ein merkwürdiger Zufall es sei, dass du so kurz nach den beiden Morden am Tatort aufgetaucht bist.«
    »Ich war nicht derjenige, der Agnes Pooles Leiche fand.«
    »Aber du warst dort.«
    »Genau wie du.«
    »Ich beschuldige dich nicht.«
    »Und was tust du dann hier? Wolltest du dir einmal anschauen, wie der ›Reaper‹ so lebt?« Norris stand auf und streifte die Hosenträger über die Schultern. »Guter Stoff für Klatsch und Tratsch, kann ich mir vorstellen. Pikante Details, die du deinen Harvard-Kumpels beim Madeira servieren kannst.«
    »So denkst du doch nicht ernsthaft über mich, oder?«
    »Ich weiß, wie ihr über mich denkt.«
    Wendell trat auf ihn zu. Er war viel kleiner als Norris, und jetzt starrte er zu ihm auf wie ein wütender Terrier. »Vom ersten Tag an, als du hier angekommen bist, spielst du unentwegt den Beleidigten. Den armen Farmerssohn, der überall ausgeschlossen wird. Niemand will dein Freund sein, weil dein Rock nicht gut genug ist oder weil du nicht genug Kleingeld in der Tasche hast. Glaubst du wirklich, dass das meine Meinung von dir ist? Dass du meiner Freundschaft nicht würdig seist?«
    »Ich weiß, wo mein Platz in eurem Kreis ist.«
    »Maße dir nicht an, meine Gedanken zu lesen. Charles und ich haben alles versucht, um dich einzubeziehen, um dir das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Und doch hältst du uns auf Distanz, als sei es für dich schon beschlossene Sache, dass unsere Freundschaft zum Scheitern verurteilt ist.«
    »Wir sind Kommilitonen, Wendell. Mehr nicht. Wir haben beide denselben Lehrer, und wir teilen uns den alten Paddy. Vielleicht trinken wir ab und zu ein Glas zusammen. Aber
schau dich doch nur in diesem Zimmer um. Dann siehst du, dass wir nur sehr wenig gemeinsam haben.«
    »Ich habe mehr mit dir gemeinsam, als ich je mit Edward Kingston gemeinsam haben werde.«
    Norris lachte. »O ja. Sieh nur, wir tragen sogar beide die gleiche feine Satinweste! Nenn mir eine Sache, die wir gemeinsam haben, abgesehen von diesem armen alten Paddy auf dem Seziertisch.«
    Wendell wandte sich zum Schreibtisch um, auf dem der aufgeschlagene Wistar lag. »Du hast gelernt, wie ich sehe.«
    »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
    »Das war meine Antwort. Du sitzt hier in dieser eiskalten Dachkammer und brennst deine Kerzen bis auf die letzte Talgpfütze ab, und du lernst . Warum? Nur, damit du eines Tages einen Zylinder tragen kannst? Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen.« Er sah Norris an. »Ich glaube, du lernst aus dem gleichen Grund wie ich. Weil du an die Wissenschaft glaubst.«
    »Jetzt maßt du dir an, meine Gedanken lesen zu können.«
    »Neulich bei der Visite mit Dr. Crouch auf der Entbindungsstation – da war diese Frau, deren Wehen schon viel zu lange dauerten. Er war dafür, sie zur Ader zu lassen. Erinnerst du dich?«
    »Ja, und?«
    »Du hast ihm widersprochen. Du sagtest, du hättest mit Kühen experimentiert. Und dass der Aderlass bei ihnen keinen Nutzen gezeitigt habe.«
    »Und dafür wurde ich nach Strich und Faden lächerlich gemacht.«
    »Das musst du doch vorher gewusst haben. Und dennoch hast du es gesagt.«
    »Weil es die Wahrheit war. Die Kühe haben mich das gelehrt.«
    »Und du bist nicht zu stolz, um von Kühen zu lernen.«
    »Ich bin Farmer. Wo sollte ich sonst etwas lernen?«
    »Und ich bin der Sohn eines Pfarrers. Glaubst du, ich hätte
auch nur im Entferntesten solch nützliche Dinge gelernt, wenn ich ihn von der Kanzel predigen hörte? Ein Farmer weiß mehr über Leben und Tod, als du jemals lernen wirst,

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