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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Verhältnissen stammte, und doch war er für sie unerreichbar. Selbst ein Farmerssohn konnte eines Tages in den besten Salons von Boston empfangen werden, wenn er eine Arzttasche in der Hand trug.
    Sollte Rose jemals einen solchen Salon betreten, dann nur mit einem Schrubber in der Hand.

    Sie war eifersüchtig auf die Lady, die ihn eines Tages heiraten würde. Sie wollte diejenige sein, die ihn tröstete; diejenige, der jeden Morgen sein Lächeln galt. Aber das wird niemals sein, dachte sie. Wenn er mich ansieht, sieht er nur eine Näherin oder eine Küchenmagd. Niemals eine künftige Ehefrau.
    Wieder drehte Billy sich um, und diesmal stieß er mit Schwung gegen sie. Sie versuchte, ihn wegzuschieben, doch es war, als versuchte man, einen nassen Mehlsack vom Fleck zu bewegen. Resigniert setzte sie sich auf. Ihre volle Blase ließ sich nicht länger ignorieren. Der Eimer stand am anderen Ende des Zimmers, und ihr graute davor, im Dunkeln über all die schlafenden Leiber zu steigen. Besser, sie nähme gleich die Treppe, die viel näher lag, und ginge vor die Tür, um ihre Notdurft zu verrichten.
    Sie zog ihre Schuhe an und schlüpfte in den Mantel, kletterte über den schlafenden Billy hinweg und tappte die Stufen hinunter. Draußen schlug ihr der kalte Wind so jäh ins Gesicht, dass sie erschrocken nach Luft schnappte. Sie verlor keine Zeit, und nachdem sie rasch die Fishery Alley hinaufund hinuntergeblickt und niemanden gesehen hatte, raffte sie ihren Rock und ließ sich, wo sie gerade stand, in die Hocke sinken. Mit einem Seufzer der Erleichterung schlüpfte sie anschließend wieder in die Pension und wollte eben die Treppe hinaufsteigen, als sie den Hauswirt rufen hörte.
    »Wer da? Wer ist da gerade reingekommen?«
    Sie spähte durch die offene Tür in seine Stube. Mr. Porteous saß da, die Füße auf eine Bank gestützt. Er war halb blind und konnte seine Pension nur noch mit der Hilfe seiner liederlichen Tochter führen. Nicht, dass es viel Arbeit gewesen wäre: die Miete kassieren, einmal im Monat frisches Stroh ausgeben und morgens ein wenig Porridge servieren, meistens mit Mehlwürmern als Dreingabe. Abgesehen davon ignorierte Porteous seine Mieter, und sie ignorierten ihn.
    »Ich bin es«, sagte Rose.
    »Komm rein, Mädchen.«

    »Ich bin auf dem Weg nach oben.«
    Porteous’ Tochter erschien in der Tür. »Da ist ein Herr, der dich sprechen will. Er sagt, er kennt dich.«
    Norris Marshall ist wiedergekommen – das war ihr erster Gedanke. Doch als sie ins Zimmer trat und den Besucher erblickte, der am Kamin stand, ließ die bittere Enttäuschung die Worte der Begrüßung auf ihren Lippen ersterben.
    »Hallo, Rose«, sagte Eben. »War ein schweres Stück Arbeit, dich ausfindig zu machen.«
    Sie war ihrem Schwager keine Nettigkeiten schuldig. Schroff fragte sie ihn: »Was tust du hier?«
    »Ich bin gekommen, um Wiedergutmachung zu leisten.«
    »Die, bei der du etwas gutzumachen hättest, kann dir nicht mehr vergeben.«
    »Du hast jedes Recht, meine Entschuldigung auszuschlagen. Ich schäme mich für mein Verhalten, und jede Nacht liege ich wach, weil ich unentwegt daran denke, in wie vielen Dingen ich deiner Schwester ein besserer Gatte hätte sein können. Ich hatte sie nicht verdient.«
    »Nein, das ist wahr.«
    Er kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu, doch sie traute seinen Augen nicht; sie hatte ihnen noch nie getraut. »Ich weiß nur einen Weg, wie ich das, was ich Aurnia angetan habe, wiedergutmachen kann«, sagte er. »Indem ich dir ein guter Bruder bin und meiner Tochter ein guter Vater. Indem ich für euch beide sorge. Geh und hol das Baby, Rose. Lass uns nach Hause gehen.«
    Der alte Porteous und seine Tochter verfolgten die Szene mit gespannter Aufmerksamkeit. Sie verbrachten den größten Teil ihres Lebens in dieser düsteren Stube, und sie waren gewiss seit vielen Wochen nicht mehr so gut unterhalten worden.
    »Dein altes Bett wartet auf dich«, sagte Eben. »Und ein eigenes Bettchen für das Kind.«
    »Ich habe hier schon für den ganzen Monat bezahlt«, erwiderte Rose.

    » Hier? « Eben lachte. »Du kannst doch unmöglich das hier vorziehen!«
    »Ich muss doch sehr bitten, Mr. Tate«, warf Porteous ein, der plötzlich merkte, dass er gerade beleidigt worden war.
    »Wie bist du denn hier untergebracht, Rose?«, fragte Eben. »Hast du dein eigenes Zimmer, mit einem guten Federbett?«
    »Ich gebe ihnen frisches Stroh, Sir«, sagte Porteous’ Tochter. »Jeden Monat.«
    »Oh! Frisches Stroh!

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