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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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einen ausgestreckten Arm stolperte oder auf einen Finger trat, wurde man mit einem spitzen Schrei und einem wütenden Klaps auf den Knöchel belohnt. Und in der folgenden Nacht würde man vermutlich wenig Schlaf bekommen, weil die eigenen Finger die Strafe zahlen mussten.
    Rose lag wach und lauschte auf das Knistern des Strohs unter den ruhelosen Leibern. Sie musste dringend ihre Blase entleeren, aber unter der Decke war es so schön warm, und sie wollte nicht aufstehen. So versuchte sie zu schlafen und hoffte, dass der Drang sich vielleicht legen würde, doch da wimmerte plötzlich Billy neben ihr und zuckte mit den Gliedern,
als ob er sich im Fallen zu fangen versuchte. Sie ließ dem Albtraum seinen Lauf; wenn sie den Jungen jetzt weckte, würden sich die Bilder nur umso tiefer in sein Gedächtnis einprägen. Irgendwo in der Dunkelheit hörte sie Geflüster, dann das Rascheln von Kleidern und gedämpftes Stöhnen, während zwei Leiber sich zusammen im Stroh wälzten. Wir sind nicht besser als die Tiere auf einem Bauernhof, dachte sie; gezwungen, vor allen anderen unsere körperlichen Bedürfnisse und unsere Triebe zu befriedigen. Auch die neue Bewohnerin, die noch mit hoch erhobenem Haupt hier angekommen war, hatte sich bald genötigt gesehen, ihren Stolz über Bord zu werfen, mit jedem Tag ein wenig mehr von ihrer Würde aufzugeben, bis auch sie wie alle anderen ungeniert die Röcke raffte und sich breitbeinig in die Ecke stellte, um in den Eimer zu pinkeln. War dies ihre eigene Zukunft, die Rose in ihr sah? Frierend und krank, auf dreckiges Stroh gebettet? Aber Rose war noch jung und kräftig, mit Händen, die zupacken konnten und wollten. Unmöglich konnte sie sich in dieser alten Frau wiedererkennen, die dort hustend in der Ecke lag.
    Und doch war Rose schon genau wie sie, Schulter an Schulter mit wildfremden Menschen auf ihrer Strohmatratze.
    Billy wimmerte erneut und wälzte sich auf sie zu, blies ihr seinen heißen, stinkenden Atem ins Gesicht. Sie drehte sich weg, um ihm auszuweichen, und stieß gegen die alte Polly, die ärgerlich nach ihr trat. Rose rollte sich resigniert auf den Rücken und versuchte, ihre immer vollere Blase zu ignorieren. Sehnsüchtig dachte sie an die kleine Meggie. Gott sei Dank schläfst du nicht in diesem Dreckloch, musst nicht diese stinkende Luft einatmen. Ich werde dafür sorgen, dass du gesund heranwächst, Mädchen, und wenn ich irgendwann blind werde vom ständigen Einfädeln und mir die Finger abfallen, weil ich von früh bis spät nähe und nähe, Kleider für feine Damen, die sich nie Gedanken darüber machen müssen, wo ihr Baby seine Milch herbekommt. Sie dachte an das Kleid, das sie gestern fertig genäht hatte, aus weißer Gaze
mit einem Unterkleid aus blassrosa Satin. Inzwischen war es wohl an die junge Dame ausgeliefert worden, die es bestellt hatte: Miss Lydia Russell, die Tochter des angesehenen Dr. Russell. Rose hatte fieberhaft gearbeitet, um es rechtzeitig fertig zu bekommen, denn man hatte ihr gesagt, dass Miss Lydia es für den Empfang der Medizinischen Fakultät morgen Abend brauchte, der im Haus des Dekans, Dr. Aldous Grenville, stattfand. Billy hatte das Haus gesehen und Rose geschildert, wie prächtig es war. Er hatte gehört, der Schlachter habe ganze Schweinelenden angeliefert und einen großen Korb voller frisch geschlachteter Gänse, und morgen würden sie in Dr. Grenvilles Küche den ganzen Tag kochen und backen und braten. Rose stellte sich die Festtafel vor mit den Platten mit zartem Fleisch, Kuchen und saftigen Austern. Sie hörte das Lachen und Scherzen der Damen, sah das Kerzenlicht und die Herren Doktoren in ihren feinen Gehröcken. Sie stellte sich die mit Bändern geschmückten Damen vor, die sich abwechselnd ans Klavier setzten und darin wetteiferten, den versammelten jungen Herren ihre Künste zu demonstrieren. Würde Miss Lydia Russell auch am Klavier sitzen? Würde der Rock, den Rose genäht hatte, elegant über die Bank herabfallen? Würde er der Figur der Trägerin schmeicheln und die Blicke eines jungen Galans auf sie lenken?
    Würde Norris Marshall dort sein?
    Der Gedanke, dass er die junge Dame bewundern könnte, deren Kleid Rose in so vielen Stunden der Plackerei genäht hatte, erfüllte sie mit plötzlicher Eifersucht. Sie erinnerte sich an seinen Besuch in ihrem Logierhaus und an die bestürzte Miene, mit der er das von Ungeziefer wimmelnde Stroh beäugt hatte, das schmutzige Kleiderbündel. Sie wusste, dass er aus bescheidenen

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