Leichenroulette - Roman
anstrengenden Fahrt etwas aus, ich erkundete das verschlafene Städtchen. Was ich sah, entzückte mich: gotische, dicht aneinanderge drängte Bürgerhäuser samt großem Rathaus, gruppiert um einen teils gepflasterten, teils als kleinen Park gestalteten, lang gestreckten Hauptplatz. In der Mitte ein schmiedeeiserner Ziehbrunnen, dessen steinerne Einfassung ein engmaschiges Gitter bedeckte. Dies hatte, wie ich bald merkte, einen guten Grund. Dauerte es doch eine ganze Weile, bis das Echo des Steins, den ich hineinwarf, vom Grund der Talsohle zurückschallte. Ein mittelalterlicher Pranger mit Kette und Steinkugel in der lieblichen Grünfläche erinnerte an die martialische Gerichtsbarkeit vergangener Tage, als man Verbrecher öffentlich zur Schau stellte. In der Ortsmitte erhob sich eine romanische, von mächtigen Pfeilern gestützte Kirche mit ebenso mächtigen Bogengewölben im halb dunklen, kalten Inneren. Alte Grabplatten aus rotem Marmor an den Wänden und im Boden kündeten von längst ausgestorbenen Bürger- und Adelsgeschlechtern. In einem gläsernen Sarg ruhten die in ein vermoderndes Prunkgewand gehüllten Reliquien der hl. Valentina, laut einer vergilbten Inschrift, das milde Geschenk einer frommen Schloss- und Patronatsherrin für ihre Pfarrgemeinde, Souvenir einer Reise nach dem fernen Rom vor über zweihundert Jahren.
Unter dem Steinbogen eines Hauses fiel mir eine Gruppe spielender Katzen auf, die munter durch ein kleines Türchen ein und aus huschten. Als ich näher trat, um die putzigen Tiere zu streicheln, entdeckte ich einen schon etwas verschmutzten Brief, den jemand mit einem rostigen Nagel brutal an das Holztor genagelt hatte. Sein Inhalt nahm mich weiter für D. ein. Schrieb doch der Bürgermeister des Ortes höchstpersönlich und leicht verzweifelt:
Liebe Mitbürger!
Die herrenlosen Katzen werden zur großen Plage. Sie vermehren sich sehr. Manche, wie Frau N., füttern sie auch noch. Es geht so weit, dass sie im Rathaus sogar auf die Stiegen des Sitzungssaals hinmachen. Und das ist nicht schön!
Der Appell enthielt mehrere Rechtschreibfehler, die ein höhnischer Tierfreund mit Rotstift korrigiert und mit einem beißenden Kommentar versehen hatte.
Nach einem Spaziergang auf der idyllischen »Som mer- und Winterpromenade«, die man im 19. Jahrhundert unterhalb der Stadtmauern angelegt hatte, kehrte ich gut gelaunt in unser verträumtes Schloss zu rück. Am Abend bot das einzige Wirtshaus des Ortes eine erfreuliche Überraschung: weiß gedeckte Tische, köstliche ländliche Speisen wie Waldviertler Knödel, Schopfbraten, Knoblauchsuppe und Mohnnudeln, dazu eine Fliegenklappe zum Erschlagen lästiger Besucher. Die Konversation der Gäste auf der wunderschönen Terrasse mit weitem Blick über Wiesen und Felder bis zum Horizont ließ uns aufhorchen. Wir hatten ländlichen Dialekt erwartet, hörten jedoch nur gepflegtes Parlieren: über Regieführung, Literaturereignisse und Kongresse für Quantenphysik. Das Rätsel löste sich: »San olle, blede Weaner, de ham die oiten Heiser kauft!«, klärte uns einer der seltenen, mit »Hoiz firen und Hoizschneiden« für den rauen Winter beschäftigten Ureinwohner missbilligend auf. »Aner hat Staner g’suacht, a Deitscher, der is glei dobliebn!« Gemeint war ein Universitätsprofessor der Geologie aus Tübingen. Dieser hatte sich, überwältigt von der Fülle der Fossilien, Muscheln und Haifischzähne, die er in dem vor zwanzig Millionen Jahren am Rande eines Meers gelegenen Gebiet aufspürte, für immer in einem der schönsten Häuser von D. niedergelassen. Überhaupt befand sich der ganze Ortskern, wie wir erfuhren, fest in der Hand »zuagraster Spinner«, die ei nen Filmclub betrieben und auf der Promenade nebst Hängematten allerlei »Kunst« genannte Objekte aufgestellt hatten. Sie hielten Lesungen ab und benahmen sich auch sonst unverständlich!
Am darauffolgenden Morgen genossen wir bei strahlend schönem Wetter einen der letzten Tage am Fluss und erlebten dabei die »zuagraste« Gesellschaft von D. aus nächster Nähe. Das Buffet auf der Liegewiese betrieb eine höfliche junge Dame, Literatin und Nachfahrin des großen Generalissimus Wenzel von Wallenstein, dem Oberbefehlshaber der kaiserlichen Streitkräfte im Dreißigjährigen Krieg. Sie kochte ausgezeichnet.
Ein pensionierter Hofrat maß stündlich Wasserstand und Temperatur des sanft dahinströmenden grünlichen Gewässers. Die Daten notierte er, ob der Kapriolen des Waldviertler Wetters
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