Leichenroulette - Roman
häufig den Kopf schüttelnd, sorgfältig in einem Büchlein. Kinder tobten auf der Wiese, spielten beim rauschenden Wehr, schwammen und paddelten in kleinen Kanus, betagte Damen in ebenso betagten Badeanzügen räkelten sich auf vergilbten Liegestühlen in der Sonne, Schönheiten in knappen Bikinis belebten das Strandleben – mit einem Wort, das Szenario wirkte wie die filmreife Kulisse zu »Sommerfrische 1950« von Federico Fellini. Es fehlte nur noch die betörende Begleitmusik von Nino Rota. Alle waren heiter und gelöst.
»Was habe ich dir gesagt?«, meinte Flo beifallheischend. »Ist es da nicht traumhaft?« Und es gab, wie er ganz richtig vermutet hatte, in unserer Herberge kein funktionierendes Internet. Ich konnte mich davon selbst überzeugen, als ich den antiquierten, in einem Winkel des Schlosses verborgenen Computer mit der Aufschrift »Eine halbe Stunde – 10 Schilling« benutzen wollte, um den Stand meiner Aktien zu erfahren. Die Münze verschwand klirrend in einer mit einem schweren Vorhängeschloss vor dem Zugriff böser Menschen gesicherter Blechbüchse, doch das Gerät reagierte nicht. Auch das Handy hatte nur sporadisch Empfang. Wir pflegten daher Erholung pur, verzichteten sogar auf Zeitungen. Aber wir machten eine interessante Bekanntschaft, die den Mangel an Publi kationen und virtueller Kommunikation vollkommen ausglich.
Ein höflicher, distinguierter, gut gekleideter Herr mit beeindruckendem grauem Cäsarenkopf und blendenden altösterreichischen Manieren, mit dem wir zufällig ins Gespräch gekommen waren, lud uns am zweiten Abend unseres Aufenthalts zu einem Drink in sein Vorgärtlein am Hauptplatz des Ortes. Er war, wie sich herausstellte, die Seele der Wiener Clique von D. In oder vor seiner einfachen, finsteren, aber strategisch günstig gelegenen Wohnung – er hatte das ehemalige Milchgeschäft zu seinem Wochenenddomizil erkoren – hielt er Hof, hieß jedermann bis in die frühen Morgenstunden willkommen und bewirtete alle.
Wir entspannten uns im Schein der untergehenden Sonne auf seiner Gartenbank und gaben die neutralen Beobachter. Hochinteressante, aber exzentrische Typen, lauter großstädtische »Zuagraste«, schlenderten vorbei, setzten sich dazu, blieben ein Weilchen. Ihre mit pikantem lokalem, teils bösartigem Tratsch gewürzten konträren Weltanschauungen – das Spektrum reichte von extrem rechts bis extrem links – entluden die meist akademisch gebildeten Herrschaften in wilden Diskussionen. Cäsar wirkte besänftigend. Uns erzählte er lächelnd, dass er bereits seit seiner Geburt, ja sogar schon kurz davor, die Ferien stets hier in der Sommerfrische verbracht habe. Endgültig dieser romantischen Stätte vieler Kindheitserlebnisse verfallen sei er jedoch, als er in D. eine in der Modebranche tätige attraktive Verehrerin des Philosophen Ludwig Wittgenstein kennenlernte und sie heiratete.
Jeden Nachmittag frequentierten wir das einzige Café des Ortes. Dessen Besitzer, ein junger Mann mit aufmerksamem Blick, war, wie uns schnell klar wurde, kein Freund seiner Mitmenschen. »Na, kochen tua i net für die Leit!« war sein Motto, mit dem er die Speisekarte auf ein Mindestmaß an köstlichen Torten beschränkte. Die Äußerungen seiner Gäste registrierte er genau. Vernahm oder vermutete er nur den Schatten von Kritik an seiner Person oder seiner Geschäftsführung, verwies er sie unverzüglich des Lokals. Dies geschah auch, wie man uns berichtete, wenn sich jemand der Not gehorchend, wie etwa bei einem Wolkenbruch, »ohne Konsumation« in seinem Lokal unterzustellen wagte.
Als passionierter Mykologe fand der Inhaber des »Mohncafés« jedoch an Flo Gefallen. Gnädig erteilte er ihm seinen fachlichen Rat, mich duldete er. Am misstrauischen Aufflackern seiner Augen erkannte ich aber deutlich, dass ich mich haarscharf am Abgrund bewegte, als ich mich harmlos als Waldviertlerin zu erkennen gab und meinte: »Auch meine Mohntorte ist gut, sehr saftig, ich hab das Rezept von meiner Großtante!« – »Wird sitzenblieben sein, Ihr Kuchen!«, erklärte er streitlustig die Saftigkeit meiner Backkunst.
Mein Freund graste nach dem Ratschlag des Café tiers die Schwammerlplätze der Umgebung von D. ab. Manchmal ging ich mit, oft jedoch blieb ich im Schloss, setzte mich in die tiefe Fensternische unseres Zimmers und las. Oder ich beobachtete die Tennisspieler des örtlichen Clubs und lachte über die Aussprüche des strengen, korpulenten ehrenamtlichen Sportwarts, der
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