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Leichenroulette - Roman

Leichenroulette - Roman

Titel: Leichenroulette - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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nur sporadisch, und Ausflüge, die ein Übernachten notwendig machten, zog man aus Gründen der Bequemlichkeit und der Sparsamkeit nicht gern in Betracht. Auch die seltenen Fahrten meiner Familie nach Wien waren stets aufregende, von meiner Mutter sorgfältig geplante Un ternehmungen.
    So fand sie sich am Vortag der Reise – und zwar um fünf Uhr früh, dem Zeitpunkt der Abfahrt des täglichen Busses – an der Haltestelle ein, gab dem Chauffeur ein kleines Trinkgeld und reservierte für die zweistündige Fahrt am darauffolgenden Tag Plätze in der ersten Reihe. Begaben wir uns mit der Bahn in die Metropole, suchten wir alle knapp vor dem Aufbruch unser Plumpsklo auf. Die Benutzung der tatsächlich immer sehr schmutzigen Zugtoilette hatte meine Mut ter streng verboten, Ausnahmen gab es nur in äußerst dringenden Fällen. Wir trugen außerdem Handschuhe und waren mit weißen Leintüchern ausgerüstet, mit denen wir unsere Sitze im Abteil belegten. Die Ermahnungen, während der Fahrt so wenig wie möglich anzufassen, da bei den Österreichischen Bundesbahnen alles verdreckt sei, klang mir noch lang in den Ohren.
    D., das Ziel meiner Reise mit Flo, hatte sich bei den Wienern schon in der k. u. k. Monarchie als idyllische Sommerfrische großer Beliebtheit erfreut. Wirkt doch die kleine Stadt auf dem steilen Felsplateau, um das sich ein Fluss schlängelt, wie die Illustration aus einem Bilderbuch. Eine uralte, mit Wachttürmen und Schieß scharten vollständig erhaltene Befestigungsmauer, einst trutziges Bollwerk gegen Überfälle aus Böhmen, vermittelt Ritterromantik. Mit dem Fortschritt der Technik war dem Städtchen seine strategische Bedeutung als Grenzbastion verloren gegangen, es versank in Be deutungslosigkeit. Die daraus resultierende chronische Ebbe in der Stadtkasse hatte den Ort vor jeglicher Modernisierung bewahrt. Gleichzeitig sorgte der Geld mangel auch für die Erhaltung seiner mittelalterlichen Architektur.
    Wir reservierten ein Zimmer in der »Schlosspension D.«, wenig später brachen wir auf. Die Fahrt durch die Monokulturen des Weinviertels war lang und öde. Doch als wir uns dem Manhartsberg näherten, wo sich Landschaft und Klima ändern, gratulierte ich Flo zu seiner guten Idee. In der rauen, herben Luft nahe der Heimat meiner Kindheit fühlte ich mich wohl. Die Zeit schien stillzustehen, in die winzigen, ärmlichen Dörfer, die sich in Senken duckten und unter der Abwanderung ihrer Bevölkerung litten, war der Fortschritt noch nicht gelangt.
    Es wurde immer einsamer, ruhiger und schöner. Dunkelgrüne Nadelwälder gaben der menschenleeren hügeligen Landschaft ein melancholisches Gepräge und machten den Rest der Strecke zum Fest für die Augen. Auf schmalen, gewundenen Landstraßen erreichten wir das Ziel. Dieses entpuppte sich als riesiges, von Weitem sichtbares Schloss, eine in der Barockzeit umgebaute ehemalige Burg. Wir betraten den dreieckigen, mit unregelmäßigen Steinen ausgelegten kühlen Hof, in dem ein alter Brunnen vor sich hin plätscherte. Es herrschte vollkommene Stille. Erst nach einiger Suche fand sich ein dienstbarer Geist, der uns einen großen Zimmerschlüssel aushändigte. Das Innere des historischen Gemäuers wirkte, als hätte es der hochadelige Schlossherr schon vor Jahrzehnten verlassen und dabei – absichtlich oder unabsichtlich – auf die Mitnahme seiner gesamten beweglichen Habe verzichtet.
    Wir bezogen einen Raum, groß wie ein Saal, mit einem riesigen Kachelofen und einer kunstvollen alten Stuckdecke. Um diese zu schonen, hatte man – und das sichtlich auch schon vor geraumer Zeit – Bad und WC in plumpen schrankartigen Verschlägen aus Holz installiert. Das aus verschiedenen Epochen bunt zu sammengewürfelte Mobiliar – barocke Truhen, wacke lige Biedermeiersessel, hohe, knarrende altdeutsche Betten – war, wie alles in dem herrschaftlichen Bau, von edler Provenienz. Sehr abgewohnt, teilweise unbrauchbar, wie die Radios aus der ersten Phase des Rundfunks, oder unmotiviert, wie die alten Betschemel in den Zimmern, verströmte es Stil und Charme und einen leichten Modergeruch, der uns von der Benützung der Kleiderschränke abhielt. Unzählige, teils wertvolle Ölbilder, überlebensgroße Ahnenbilder in schweren Rahmen, vergilbte Stiche und Zeichnungen verzierten die Wände der Gästezimmer und die langen, mit abgetretenen Läufern bedeckten Gänge, wo Geweihe von der Jagdleidenschaft der einstigen Bewohner zeugten.
    Flo ruhte sich nach der

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