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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vicki Stiefel
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lebte seit beinahe zwei Jahrzehnten in Boston. Ich kannte nichts anderes. Die U-Bahn, die Einkaufsmeile Newbury Street, das Baseball-Stadion Fenway Park. Italienische Feste im North End, der Markt um die Faneuil Hall, die Duck Boat Tours. Und die Familien der Toten. Die kannte ich auch.
    Also gut – manchmal ging ich eine Runde fischen. Machte eine Reise. Oder eine Wanderung.
    Aber das bedeutete nicht, irgendwo anders zu leben.
    »Alles klar, Pens?«, fragte ich und streichelte ihr über den Kopf. Sie lag auf dem Sofa in unserer Wohnung im South End und hatte alle viere von sich gestreckt. »Was soll das bringen, wieder dorthin zu fahren. Der Anrufer war bestimmt nur irgendein Blödmann oder so was. Ich habe schließlich zu tun. Jede Menge sogar.«
    Oh Mann, ich war seit mehr als zwanzig Jahren nicht in Winsworth gewesen. Ich vermisste es, sicher doch, aber eher so, wie man eine geliebte alte Puppe vermisst, die man als Kind hatte. Also nichts, womit man als Erwachsener noch spielen möchte. Nur etwas, woran man sich gern erinnert.
    Beim zweiten Mal erwischte Mr Atemlos mich zu Hause. »Die wollen sein Grab aufbuddeln. Zerstören wollen sie …«
    »Wer ist da, und wovon reden Sie eigentlich?«
    »Emmmaaaa. Er leidet. Du musst kommen. Sonst wird er …«
    Er legte auf.
    »Verflixt, Penny!«
    Sie wollen sein Grab aufbuddeln. Himmel.
    Mr Atemlos wusste nur zu gut, wo er bei mir ansetzen musste. Um was für falsche Anschuldigungen gegen meinen Dad konnte es sich da handeln? Und der Gedanke, dass jemand litt … Oh ja, der Typ hatte echt den richtigen Hebel in Gang gesetzt.
    Ich machte mir einen Bourbon auf Eis und entschied mich, den Anruf zu verdrängen. Durchgeknallte gab es schließlich jede Menge. Mr Atemlos war nur einer von ihnen.
    Aber die Wahrheit war: Unser Haus war abgebrannt. Wir hatten die Stadt auffällig überstürzt und mitten in der Nacht verlassen. Nicht, dass ich mich noch an besonders viel erinnerte. Es war das erste Mal gewesen, dass wir »Hals über Kopf« abgehauen waren, um es mal so auszudrücken. Mich schauderte. Aber nicht das letzte Mal. Seit Winsworth – oder vielleicht gerade deswegen – war für meinen Vater vieles zunehmend schiefgelaufen. Das Leben war nie wieder einfach gewesen.
    Wie lächerlich, dorthin zurückzukehren. Warum alles noch komplizierter machen?
    Aber manchmal hat man keine Wahl.
    Ich rief Gert an, um ihr zu sagen, dass ich mir eine kleine Auszeit gönnen wollte. Sie hatte meinen Anruf bereits erwartet und war vorbereitet.
    Also reichte ich einen Monat Urlaub ein, womit ich alle bei den Crime Scene Services und das ganze MGAP schockierte, genau wie meine Pflegemütter, sollte ich hinzufügen. Ich gab vor, nach der Geschichte mit dem Schnitter eine Pause zu brauchen, was ja auch nicht wirklich gelogen war. Ich wollte meine Batterien aufladen, was irgendwie auch stimmte. Ich sehnte mich nach dem Meer. Ehrlich.
    Ich erzählte nur Gert und Kranak von dem wahren Beweggrund für meine Mission. Sie waren sich beide einig – ich war durchgeknallt. Ich stellte sicher, dass jemand Qualifiziertes mich vertrat, und drückte Gert meine Schlüssel in die Hand.
    »Ruf an, wenn du mich brauchst«, sagte sie. »Ich komm und steh dir bei. Schließlich fährst du mehr oder weniger in die Wildnis.«
    Ich gluckste. »Nicht wirklich, Gertie. Ich fahre an die Küste von Maine.«
    »Ach ja? Das ist die Wildnis.«
    Kranak vergrub die Hände in den Taschen und schüttelte den Kopf.
    Am nächsten Morgen brachen Penny und ich nach Norden auf, nach Winsworth in Maine.

2
Wer ist denn da?
    Der Film war gegen dreiundzwanzig Uhr aus. Die Nacht war dunkel, Regen lag in der Luft. Typisch für Maine im Juni, aber bei Weitem zu »noir«, insbesondere nach Scorseses düsterem Drama. Zu viel Zeit zum Nachdenken auf der einstündigen Fahrt von Bangor zurück zu meinem Ferienhaus in Winsworth.
    Ich war jetzt seit drei Tagen in Winsworth. In dieser Zeit hatte ich ein Cottage in einer Bucht in Surry angemietet und alte Lieblingsorte besucht – Restaurants, die Bücherei, den General Store. Manche dieser Orte – wie Mrs Cavasos Haushaltswarenladen – waren verschwunden. Andere hatten den Besitzer gewechselt. Ich sah mir auch einige neue Geschäfte an, wie die Post, Jeb’s Pub und Stop& Shop. Überall stellte ich mich als »Tally Whyte« vor. Ich hatte hier nicht mehr gelebt, seit ich zwölf war. Niemand würde mich erkennen. Mir gefiel diese Anonymität. Doch ich richtete es so ein, den Namen meines Vaters

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