Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Station je gesehen hatte. Ein Pfleger brach sich das Handgelenk. Der Patient, der mit dem Stift zugestoßen hatte, wurde mit einem Schädelbruch in die Zentralklinik eingeliefert. Der niedergestochene Pfleger überlebte, quittierte aber den Dienst und zog in eine andere Stadt. Dem Vernehmen nach vertrieb er jetzt im Internet Werbegeschenke für Unternehmen, im Nacken unauslöschliche Erinnerungen an seinen früheren Job.
»Eine Berufskrankheit«, sagte Autio. »Man vergisst, was unsere Schützlinge in ihrem früheren Leben getan haben.«
Einer der Patienten kam im Laufschritt auf die beiden Männer zu. Mikael verlangsamte seine Schritte, hoffte, dass Autio es nicht merkte.
»Ich bin Laukkanen«, sagte der etwa zwanzigjährige Mannund näherte sich mit ausgestreckter Hand. Mikael schüttelte sie widerstrebend. Laukkanen trug ein übergroßes Iron-Maiden-T-Shirt und hatte blaurote Lippen. Seinen Mp3-Kopfhörer hatte er sich um den Hals gelegt.
»Ich hab zu viel Speed geschluckt«, redete er wild drauflos, »deswegen bin ich hier. Glaub nicht, was Autio dir sagt. Mein Alter war ’n Säufer, aber ich bin schon mit ihm klargekommen. Den hab ich fünf zu null an der Nase rumgeführt.«
»Tatsächlich?«, gab Mikael zurück.
»Ja, ja«, sagte Laukkanen, als spräche er mit jemandem, der über die Hintergründe informiert war.
Es war kaum vorstellbar, wie fahrig der Mann erst unter Drogen gewesen sein musste. Jetzt bekam er vermutlich Beruhigungsmittel, und doch zuckten seine Augen ständig hin und her.
»Ich hatte früher ’ne Band, und wir hatten fast den Durchbruch geschafft, aber dann hatten wir ’nen Clash. Jetzt singen sie meine Texte, die Arschlöcher, ohne meine Zustimmung, ich hab mich bei der Gema beschwert, die haben super Anwälte. Verdammt noch mal, die erledigen das.«
»Sehen wir uns Finnes Akte an?«, rief Autio, der vorausgegangen war.
»Hör mal, wir reden später weiter«, sagte Mikael und ging zum Stationszimmer. Laukkanen folgte ihm und erzählte, was für Gitarren er früher gehabt habe, bis sein Vater sie verscherbelt und das Geld versoffen habe, der Arsch.
Das Gelaber brach erst ab, als die Tür zufiel.
8
»Finne rasiert sich fast jeden Tag von Kopf bis Fuß, Achsel- und Schamhaare eingeschlossen«, sagte Autio, als sie am Tisch saßen. Laukkanen schaukelte und hüpfte am Fenster herum, unterlegte das Gespräch mit seinen rastlosen marionettenartigen Bewegungen.
»Bei uns bekommen die Männer jeden Morgen für eine Viertelstunde einen Rasierer, wenn sie wollen. Man muss sie während der Prozedur im Auge behalten. Deshalb geht der Pfleger mit ins Badezimmer, obwohl Finne nicht suizidal ist. Er ist nicht der Typ. Der Chefarzt hat gesagt, soll er sich doch rasieren, wenn ihn seine Porzellanhaut glücklich macht. Besser, als dass er sich die Haare ausreißt. Das hat er am Anfang gemacht.«
»Hat er erklärt, warum?«
»Ja«, lachte Autio träge. »Unser Sinuhe sagt, der Körper muss rein sein. Sekhu, sagt er.«
»Was ist das?«, fragte Mikael.
»Sekhu heißt Körper, Leib. Das kriegst du bestimmt noch zu hören. Die Ägypten-Geschichten. Aus denen wird nicht mal der Chefarzt richtig schlau.«
»Wo hat er die her?«
»Aus Büchern wahrscheinlich. Nach der Verhaftung hat man in seinem Haus meterweise Bücher gefunden. Allesamt aus der Bibliothek geklaut, die ältesten schon in den sechziger Jahren. Alles von Sinuhe, der Ägypter bis zu Sachbüchern und irgendwelchen uralten deutschen Schinken, wahrscheinlich aus demNachlass seines Bruders. Ein paar davon hat der Chefarzt während der Ermittlungen zur Ansicht bekommen. Sammlerstücke, meint er.«
»Physisch sieht er ziemlich fit aus«, sagte Mikael.
»Er ist kerngesund. Jokela zufolge hat er eine außergewöhnlich gute Konstitution. Er glaubt, er wäre hier zur Konservierung, bevor er über die Grenze geht. Jeden zweiten Tag verlangt er vom Chefarzt mehr Natronsalz.«
»Was?«
»Natronsalz ist ein Balsamierungsmittel. Eine Mischung aus Soda und Natriumkarbonat. Wenn man das in die Haut reibt, verschwindet alle Feuchtigkeit, und es bleibt gut haltbarer Zwieback zurück. Finne hat das Zeug bei den Katzen benutzt.«
Autio bemerkte Mikaels verwunderten Blick.
»Steht alles in dem Bericht. Er hatte im Keller seines Hauses ganz traditionell Ebereschenlikör und etwas weniger traditionell siebenundvierzig einbalsamierte Katzen.«
Autio amüsierte sich über Mikaels Miene.
»Ach«, neckte er ihn. »Du hast noch nicht davon
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