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Leichentücher: Psychothriller (German Edition)

Leichentücher: Psychothriller (German Edition)

Titel: Leichentücher: Psychothriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
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eventuelle Notfälle die Durchwahl zur Station zu geben, denn Handys waren ein Risiko. Sie konnten verschwinden, einem Patienten in die Hände fallen, der dann wer weiß wen anrief. Ein warnendes Beispiel hatte sich vor drei Jahren ereignet, als ein Patient dem Ergotherapeuten das Handy aus der Tasche gezogen und über die Auskunft seine Tochter angerufen hatte, die bis dahin keine Ahnung gehabt hatte, dass ihr biologischer Vater als Brandstifter im Maßregelvollzug saß.
    Saana meldete sich mit matter Stimme.
    »Ich geh noch ein Bier trinken«, sagte Mikael, den Blick auf die Ampel geheftet.
    »War es so schlimm?«
    »Das Übliche, aber ich will abschalten. Dann geht’s mir besser.«
    »Okay, aber sei leise, wenn du nach Hause kommst. Kann sein, dass ich schon schlafe.«
    Mikael beendete das Gespräch und steckte das Handy wieder in die Tasche, bemühte sich, in den harmlosen Worten keine Vorwürfe zu suchen. Seit der Erkrankung war jede Sekunde des Beisammenseins kostbar, weil man ja nie wusste. Genau das war Mikael irgendwann zu viel geworden. Dass man ja nie weiß. Er begann, sich vor den teuren Sekunden zu fürchten, die allzu schwer wogen.
    Einmal, als er Nachtdienste abfeierte, hatte er das Beisammensein tagelang vermieden. Es war knapp einen Monat nach Saanas ersten Untersuchungsergebnissen gewesen, als vom Klingeln des Weckers bis zum Schlafengehen über die Behandlung gesprochen wurde. In jeder verdammten Minute jedes verdammten Tages, direkt oder indirekt. Die Krankheit hatte sich ihren Platz erobert, auf der Einkaufsliste, bei jedem Telefonat, bei jeder Berührung.
    Saanas Vater hatte Mikael schließlich eines Nachmittags aus dem »La Luna« geholt, wo er schwankend an der Jukebox gestanden hatte, das neunte leere Bierglas in der Hand. Es hätte beinahe eine Schlägerei gegeben. Zum Glück war es nicht so weit gekommen, aber auch so war ein irreparabler Riss entstanden.
    Damals hatte Mikael Saana geschworen, dass er bis zum Schluss an ihrer Seite bleiben würde. Die Forderung nach diesem Schwur hatte von Anfang an in der Luft gehangen, aber Mikael hatte das Thema in wortlosem Entsetzen gemieden. Nach der dreitägigen Sauftour, als Saanas Vater seiner Tochter ihr verlorenes Eigentum zurückgebracht hatte, gab es keinen Ausweg mehr. Die gewichtigen Sekunden mussten eingelöst werden. Er musste in die Finsternis reisen.
    Mikael parkte vor der Hauptpost und ging um die Ecke in den Irish Pub. Er bestellte ein großes Bier und setzte sich an einen Tisch am Fenster, obwohl die Gefahr bestand, dass Bekannte, die vorbeikamen, ihn sahen. Er blickte nach draußen undleerte sein Glas zur Hälfte, den Blick auf die im Wind schwankende Straßenlampe geheftet. Sie machte unaufhörlich Spätdienst, Nachtdienst. Aber außer Mikael schenkte keiner ihrem Kampf gegen den Wind Beachtung. Er allein machte sich Sorgen darüber, dass das zwischen den Häusern gespannte Drahtseil reißen und die Lampe herunterfallen könnte. Sie war eine Sonne in der bedeutungslosen Nacht.
    Mikael holte sich noch ein Bier und setzte sich wieder an seinen Tisch. Der Wagen konnte auf dem Parkplatz vor der Post stehen bleiben. Er würde ihn am Morgen holen.
    Ein Grüppchen Teenager ging am Fenster vorbei, zwei Mädchen und drei Jungen. Das eine Mädchen sah ihm in die Augen. Eine Sekunde lang taxierte er sie, überlegte, wie es wäre, diese andere Person zu sein, in diesem Alter. Dann verschwand die Gruppe.
    Das Mädchen würde sich nicht an den Mann mit dem Bierglas erinnern, aber Mikael behielt ihr Gesicht im Sinn und stellte halb unbewusst Kalkulationen an. Als dieses Mädchen das Licht der Welt erblickte, war ich vielleicht zwanzig. Fünfzehn Jahre später sind wir hier. Heute in zwanzig Jahren bin ich vielleicht noch ganz fit. Noch zwanzig Jahre später …
    Todesmathematik. Die hatte Mikael sein Leben lang betrieben. Im Klassenzimmer, wenn sich die Worte des Lehrers in sinnlose Laute verwandelten, oder auch nachts vor dem Einschlafen.
    Vor allem in dem Sommer, in dem das Asthma seiner Mutter schlimmer geworden war. Die Nächte waren ungewöhnlich hell gewesen. Jeden Tag waren sie mit dem Fahrrad zum Schwimmen nach Ahvensaari gefahren. Der Geruch des Schilfrohrs war intensiver geworden, je näher sie dem Ufer kamen. Mikael erinnerte sich noch genau an diesen Geruch, spürte ihn in der Nase. In den Duft mischten sich Schmerz und Verlust, denn in jenem Sommer hatte er den Glauben daran verloren, dass die Welt es schaffte, zu atmen. Er erinnerte

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