Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
der Soldaten beantwortet wurde. Ihre Beharrlichkeit hatte etwas Merkwürdiges. Dass jemand so durchhielt, verdreckt und hungrig, in der zerstörten Stadt.
»Ist sie immer noch so schön?«, fragte Reijo, als wäre er blind, und legte Olavi eine Hand auf die Schulter. »Oder nagt das Elend schon an ihren Reizen?«
Die Worte wurden von Rauch begleitet, der nach trockenem Sägemehl roch.
Olavi antwortete nicht, denn in einer halben Minute würde die Frau verschwinden, und dann musste er wieder bis morgen warten. Sie ging am Fenster vorbei, nur fünf Meter entfernt. So nah, dass man die Schatten auf ihrem Gesicht sehen konnte, die Spuren zu lange andauernder Not. Die mageren, bleichen Arme und die kleinen Wunden an den Knöcheln.
Und dennoch war die Frau ein Sonnenstrahl. Dennoch riss sie Olavi aus seinem Entsetzen.
Am Abend rollte der Geschützdonner heftiger als sonst. Immer wieder bebte die Erde, sodass die Regenpfützen sich wellten. Gerüchte von der Verlegung an die vorderste Front gingen um, aber nichts geschah.
Die Truppeneinheit war in die Stadt verlegt worden, um einen Aufstand zu ersticken, der bei ihrem Eintreffen jedoch bereits niedergeschlagen worden war. Seit fast zwei Wochen hockten sie müßig in einer verlassenen Volksschule herum. Die frustrierten Soldaten spielten Karten und tranken, zeichneten obszöne Bilder auf die Schautafeln, auf denen rundliche Bauern und Kaufmänner lächelten.
»Sie trauen uns nicht«, sagte man. »Aber bald bleibt ihnen keine andere Wahl.«
Olavi hatte sich schon fast zwei Stunden am Fenster herumgetrieben, doch die Frau ließ sich immer noch nicht blicken. Das quälte ihn, denn außer ihr gab es auf der Welt nichts mehr.
Sie stiegen zusammen auf das Dach des Schulhauses. Die Mündungsfeuer, die dem Geschützdonner vorangingen, ließen den Horizont und die Wolken über Vistula gespenstisch aufleuchten.
»Ob das irgendwer überlebt?«, fragte jemand.
Natürlich, lautete die Antwort. Die Russen sind vom Wodka und vom Heimweh so durcheinander, dass sie meistens nach Osten schießen.
Olavi betrachtete den flammenden Himmel und dachte darüber nach, wie aus Licht und Schatten und den Funken hinter den Augenlidern ein Gesicht entstand.
»Warum haben die uns geschickt?«, fragte er Reijo, der schweigend neben ihm hockte wie immer und aus seinem Flachmann trank.
»Wegen dem Aufstand«, antwortete Reijo.
»Nicht hierher. Zur Ausbildung.«
Reijo trank einen großen Schluck und summte vor sich hin, um sich vor der Antwort zu drücken.
»Wer weiß«, sagte er schließlich. »Am besten denkt man nicht darüber nach.«
»Verlierst du auch manchmal das Gefühl?«, fragte Olavi. »Als wärst du wieder dort?«
Reijo schwankte und atmete schwer.
»Es passiert alles Mögliche«, sagte er dann und wischte sich den Mund am Ärmel ab. »Es ist Krieg.«
Reijo legte Olavi den Arm um die Schultern und kam viel zu nahe zu ihm heran.
»Es ist Krieg.«
Der Himmel zuckte, als hätte der Krieg die Wolken infiziert.
11
Die erste Woche auf Station A lief im Grunde genommen leicht. Der Dienst fühlte sich eigentlich gar nicht nach Arbeit an. Aber anfangs schaffte Mikael es einfach nicht, die Situation zu genießen.
Er war so an die ständig drohende Gefahr auf Station D gewöhnt, dass er nicht imstande war, im Aufenthaltsraum Zeitung zu lesen oder fernzusehen, ohne pausenlos auf der Hut zu sein. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, seinen Sitzplatz automatisch so zu wählen, dass er am Spiegelbild im Fenster oder auf dem Bildschirm sah, wenn jemand in seinem Rücken auftauchte. Diese Angewohnheit hatte ihn davor bewahrt, eine Billardstange über den Kopf gezogen zu bekommen. Ein andermal hatte sie ihn im Essraum vor einem Stuhl gerettet, den ein Patient hinter ihm bereits gehoben hatte.
Die eigentliche Pflege auf Station A bestand hauptsächlich in physischer Anwesenheit und im Schlüsselverwahren. Mikael beobachtete die Arbeitsweise seiner Kollegen und passte sich ihr an.
Er merkte bald, dass es sich nicht lohnte, seine Energie auf intensive Gespräche zu verschwenden, da die Patienten auch mit weniger zufrieden waren. Vielleicht hatten auch sie kein Bedürfnis nach ständigem therapeutischem Sparring, bei dem man versuchte, Probleme des Lebens zu lösen. Vielleicht wollten auch sie nur einfache Antworten auf einfache Fragen. Fragen, auf die es tatsächlich eine Antwort gab. Eines Tages ging Alli nach dem Frühstück zu einem Pfleger und fragte: »Entschuldigung,aber wie heißen
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