Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Mikael ging weiter, ohne das Lächeln zu erwidern, doch nach ein paar Schritten schämte er sich für seine schlechten Manieren.
Er kehrte zum Fenster zurück in der Absicht, sich mit einem scherzhaft-höflichen Winken zu verabschieden. Ein lautloser Lachanfall schüttelte die beiden. Mikael war plötzlich überzeugt, dass sie über etwas lachten, das ihn nichts anging, das er nie verstehen würde. Rasch wandte er sich ab, bevor ihn die Männer erblickten, und setzte seinen Weg fort.
Zu Hause angekommen, ging Mikael als Erstes zu Saana und küsste sie auf die Stirn. Wie immer auf die eine Stelle am Haaransatz, in der Hoffnung, die Geste würde sie beide heilen.
Saana streichelte ihm liebevoll über die Wange und die Stirn, zog dann aber die Hand zurück.
»Wie viel hast du getrunken?«, fragte sie.
»Zwei. Oder drei.«
»Man weiß doch, wie viel man getrunken hat. Außer, man ist besoffen.«
»Ich war in Gedanken.«
»Du musst lernen, nüchtern durchzukommen.«
Wenn Saana schläfrig war, sprach sie oft so. Direkt, ohne Anlauf und ohne Umschweife. Sie hatte nicht mehr die Kraft,Höflichkeit vorzutäuschen. Es schmerzte. Nicht, dass ihr die Kraft dazu fehlte, sondern dass sie ihm etwas vorspielen musste.
»Lass uns einfach nur hier sein«, bat Mikael.
»Für dich ist es leicht, einfach nur hier zu sein.«
Mikael schob eine Hand unter Saanas Nachthemd und bemerkte, wie sein Atem schneller ging. Eine Hand wehrte ihn ab, mit einer langsamen, grausamen Bewegung. Eine Welle von Reue und Scham brandete über seine trunkene Selbstsicherheit hinweg.
»Gute Nacht«, sagte er rasch, stand auf und schloss die Schlafzimmertür.
Sein Hals glühte. Beim Schlucken spürte er etwas in der Kehle, was nicht dorthin gehörte. In seiner Fantasie sah er den Arzt vor sich, der ihm mitteilte, auch er habe Krebs. Dann wären Saana und er gleichauf. Er merkte, dass er betrunken war.
Mikael ging ins Wohnzimmer, setzte die Kopfhörer auf, ließ Mezzanine von Massive Attack laufen und öffnete eine Bierdose.
Während er die schwankenden Äste vor dem Haus betrachtete, dachte er an die Teenager, die wahrscheinlich nichts von Massive Attack wussten, und an die beiden Männer, die ihre Würfel warfen und lautlos lachten.
10
Mitunter erwachte in Olavi Finnes Bett der andere Mann. Derjenige, der sich anders erinnerte. Der nicht sprechen konnte.
Olavi war aus dem Schlaf geschreckt, als sich unter seinen Pobacken warme Feuchtigkeit ausbreitete und Pisse aufs Laken rann. Er regte sich nicht, ließ alles laufen. Die Leute würden das Laken am Morgen abholen und ein neues bringen. Sie waren so geduldig, so gewissenhaft.
Das Zimmer lag im Halbdunkel. Die Nacht verhüllte die Zeit, den Ort und die Nuancen. Ließ einen alles Mögliche vermuten.
Wer? , fragte Olavi den Schatten an der Decke. Er versuchte, die Frage auszusprechen, zu flüstern, doch sein Mund bewegte sich nicht. Daran merkte er es. Er drehte den Kopf zur Seite.
Die Katzen waren wieder im Zimmer. Olavi zählte sie zweimal. Tatsächlich, alle waren da. Schwarze Bündel in den Zimmerecken, unter dem Tisch und an der Tür. Sie schnurrten und starrten, als ob ihnen etwas fehlte.
Warum schleicht ihr euch hier ein? , fragte er. Sie ist es doch, die euch braucht.
Sie gaben keine Antwort, bewegten sich nicht. Und wenn man sie lange genug ansah, wurde das Zimmer dunkler. Ihre Augenperlen schrumpften und leuchteten intensiver.
Olavi ertrug das gleichgültige Starren der Katzen nicht. Er stand auf und setzte die nackten Füße auf den kalten Boden. Die urinfeuchte Haut fror, als er zum Fenster ging.
Zuerst war in der Scheibe nur das Spiegelbild eines alten Mannes zu sehen. Dahinter der umzäunte nächtliche Hof.
Dann eine schmutzige Straße. Die zerborstenen Fenster eines Hauses. Truppentransporter. In Zweierreihen marschierende Soldaten.
Warum sprichst du nicht?
»Hast du ’ne Zigarette?«, fragte jemand.
Olavi drehte sich nicht um, denn er kannte die Stimme. Er holte die Schachtel aus der Brusttasche und schnippte sie auf. Reijo fischte eine platt gedrückte Hälfte Sondermischung heraus und bedankte sich, erklärte, er habe beim Radiohören seine ganze Tagesration aufgeraucht, bat um Feuer.
»Aha, da kommt sie wieder«, sagte er.
Die Frau schob ihr Fahrrad über die höckrige Straße wie einen Trinker, dem die Beine versagen. Sie blickte jeden, der ihr begegnete, an und lächelte vorsichtig, obwohl ihr Lächeln nur mit müder Herablassung oder mit den obszönen Zurufen
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