Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
sich an dieNächte, in denen er die gleichmäßige Bewegung der Vorhänge in seinem Zimmer betrachtet und nicht gewagt hatte, die Augen zu schließen. Der pfeifende Atem seiner Mutter, die vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer und wieder zurück ging. Der Atem der Welt. Pfeifend, mühsam. Mikael hatte sich konzentrieren und ihr die Kraft geben müssen, weiterzuatmen. Die Jahre zählen, die Tage. Schritte, Atemzüge.
Er erinnerte sich auch an den Felsen, zu dem sie immer geschwommen waren. (Wer war bei ihm gewesen? Ein gesichtsloses zweites Kind. Warum erinnerte er sich an alles andere so genau, während dieses Kind nur ein Schemen blieb?) Er erinnerte sich, wie anstrengend es war, aus der Schwerelosigkeit des Wassers auf den nassen, rutschigen Felsen zu klettern. Die Glieder verwandelten sich in Blei, sobald sie das Wasser verließen. Er erinnerte sich an den körnigen Stein unter den Fußsohlen, daran, wie er die am Strand sitzenden, liegenden und laufenden Menschen betrachtet hatte. Erwachsene, deren pralle Schenkel aus den Badeanzügen quollen wie aus einer Wurstmaschine, kleine Kinder mit Schwimmflügeln, die sich kreischend ins Wasser stürzten und versuchten, den Kopf oben zu halten.
Er erinnerte sich an den festen Stein unter seinen Füßen und an den Gedanken: Wird es das im nächsten Sommer noch geben? Aus irgendeinem Grund war die Druckwelle in seiner Vorstellung immer grün, obwohl man das ja gar nicht wissen konnte. Aus irgendeinem Grund fegte sie die Bäume am Strand weg, das Zentrum von Suvilahti und die Schule und alle Fahrradständer, als suchte sie nach einem bestimmten Menschen. Seine Mutter würde mühsam atmend auf dem Balkon warten. Die sich nähernde Vernichtung betrachten, dankbar, weil die Welt mit ihr gehen wollte, weil die Welt sie für so speziell hielt.
Mikael fuhr zusammen, als er in einer fremden Sprache angeredet wurde.
Er blickte auf, überraschend beschwipst, und sah einen Mannmit aufgedunsenem Gesicht und dunklen Augen, der ein Whiskyglas in den prallen Fingern hielt. Die Krawatte des Mannes glänzte türkis. Unter dem Kragen lugten Brusthaare hervor, bis an den Adamsapfel. Vielleicht hatte der Mann sich im Hotelzimmer rasiert und beschlossen, dass an dieser Stelle die Brustbehaarung aufhört und der Bart beginnt.
»Is this free?«, wiederholte der Mann.
»Yes, yes«, antwortete Mikael mit beflissener Höflichkeit.
Der Mann wandte den Blick sofort von ihm ab und setzte sich an den Tisch. Er trank einen winzigen Schluck von seinem Whisky und beobachtete die Bar.
Mit Mikaels leerer Konzentration war es vorbei. Die Straßenlampe war nur noch ein schaukelndes Licht, peinlich, sie anzustarren.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich noch jemand an seinen Tisch setzte, jetzt neben ihn. Er schaute zur Seite und erblickte einen dunkelhaarigen Mann mit magerem Gesicht, dessen Augen so groß waren, dass sie aus den Höhlen zu kullern drohten. Ihre Blicke trafen sich. Der Mann rückte seine Krawatte zurecht und lächelte. Einer seiner Schneidezähne war oben dunkel verfärbt. Mikael richtete die Augen wieder auf die Lampe. Die Männer begannen, sich in einer unbekannten Sprache zu unterhalten. Arabisch oder das, was man in Israel sprach. Hebräisch? Er versuchte, sich auf die Lampe zu konzentrieren. Das Drahtseil straffte und lockerte sich. Mikael dachte an die Bolzen und die geflochtenen Stahldrähte und beschloss, darauf zu vertrauen, dass das Licht blieb.
Der eine Mann legte ein kleines zusammenklappbares Spielbrett auf den Tisch, das einen Kreis und in dem Kreis ein Viereck zeigte. Der andere schüttelte Würfel in der Hand und ließ sie auf den Tisch prasseln. Dann folgte hitziges Reden, enttäuschtes Aufstöhnen oder freudiges Jubeln. Mikael verfolgte das Spiel aus den Augenwinkeln, versuchte, die Regeln des Spiel zu verstehen, doch es gelang ihm nicht. Die Würfel prasseltenauf den Tisch und gaben ihre seltsame Bedeutung frei, die diesen Männern vermutlich schon seit ihrer Kindheit vertraut waren, ihm aber vorenthalten blieben.
Mikael trank sein Bier aus, überlegte, wie er höflich darum bitten sollte, dass man ihm Platz machte, sagte schließlich: »Excuse me.« Der Mann stand sofort auf und nickte, als wollte er sich verbeugen.
Mikael holte seinen Mantel und verließ den Pub. Er schlug den Kragen hoch und ging kreuz und quer durch die Fußgängerzone. Als er wieder am Pub vorbeikam, sah er im Fenster den Tisch, an dem er gesessen hatte. Der magere Mann sah ihn an und lächelte.
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