Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Glaubensfrage.«
»Nein«, sagte Mikael und sah Hannele Groos an, »das sind Spitzfindigkeiten. Ihr Lehrer war irgendso ein Spinner aus Mittelfinnland.«
»Aha«, erwiderte Groos mit gespielter Verärgerung. »Was hat das mit Mittelfinnland zu tun?«
»Sind Sie nicht aus Mittelfinnland?«
»Ist das ein Manko?«
»Na, zumindest das Gefasel Ihres Lehrers ist ein Manko. Hier bei uns sind die grundlegenden Fakten schon lange in Stein gehauen. Himmel, Erde. Mensch, Kommunist. Gesund, verrückt. Klare Grenzen.«
»Kann sein, aber haben Sie noch nie von Febres’ Experimenten gehört? Die wurden schon Ende der Siebziger gemacht, aber vor ein paar Jahren war im Medical Journal wieder was darüber zu lesen.«
Mikael gab vor zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf. Die Frau nahm doch wohl nicht im Ernst an, dass die Pfleger das Medical Journal lasen? Zeitschriften wie Die Welt der Technik und Wir Frauen fanden auf der Station den stärksten Zuspruch.
»Febres war Arzt in Argentinien während der Diktatur. Er hat Experimente am Gehirn gemacht, zuerst bei Tieren, dann bei Menschen. Ende der Neunzigerjahre ist er im Gefängnis gestorben.«
Mikael nickte, obwohl ihm nicht klar war, worauf Groos hinauswollte.
»Er behauptete, er hätte bei diesen Experimenten auf chemischerBasis einen Zustand erzeugt, in dem ein gesunder Mensch seine eigenen Parapersonen sah. Bleibende Halluzinationen. So ähnlich, wie Kinder Fantasiefreunde sehen. Er hat seine Versuchskaninchen interviewt und in stundenlangen Gesprächen vollständige Beschreibungen des Äußeren und des Charakters von Menschen bekommen, die nicht existierten. Komplette Lebensgeschichten, inklusive Namen und Kindheitserinnerungen. Von fiktiven Menschen.«
»Na und?«
»Na ja, er hat behauptet, die Beschreibungen wären so konsistent gewesen, dass seine Versuchskandidaten sie nicht selbst hätten entwickeln können. Er hatte ja die Berichte der Geheimpolizei über seine Probanden. Er hat die Angaben über sämtliche Verwandten und Freunde überprüft, ohne in der realen Welt eine Entsprechung für die Fantasiefreunde zu finden.«
»Er hat seine Versuchskaninchen also schizophren gemacht«, sagte Mikael. »In voller Absicht.«
»Eigentlich nicht. Die Schizophrenietests brachten verwirrende Ergebnisse, und psychotische Halluzinationen sind ja in aller Regel inkonsequent. Entweder sind sie von ihrer Persönlichkeit her eindimensional oder sie verändern sich parallel zu den Gefühlen des Halluzinierenden. Aber diese Gestalten blieben Febres zufolge immer dieselben Persönlichkeiten. Er konnte sie sogar analysieren. Sie waren in jeder Hinsicht sehr wirklich, außer …«
»Außer, dass sie nicht existierten.«
»Genau«, sagte Groos.
»War dieser Febres ganz bei Trost?«
»Ich weiß es nicht. Im Gefängnis hat er dann noch behauptet, seine Probanden wären dazu übergegangen, tagsüber zu schlafen und nachts zu wachen. Sie hätten die Fähigkeit entwickelt, im Dunkeln zu sehen.«
»Sie wollen mich wohl verschaukeln.«
»Nein«, entgegnete Groos ernst, »aber es ist gut möglich,dass Febres die Geschichte erfunden hat. Er war deprimiert und hatte vermutlich auch Schuldgefühle. Er fing an, seine Leistungen und Experimente aufzubauschen. Aber einer seiner Gedanken ist interessant. Febres sprach von devianten Wahrnehmern.«
Mikael bemühte sich, nicht zu blinzeln.
»Unser Gehirn wird vom skrupellosesten Experimentator manipuliert. Von der Evolution. Die meisten von uns nehmen nur Dinge wahr, die für das Überleben wesentlich sind. Aber wie die Evolution zum Beispiel die Neigung zur Psychopathie bewahrt hat, so hat sie möglicherweise auch diese anders Wahrnehmenden erhalten, quasi auf der Reservebank, für alle Fälle. Es ist eine normale Variation der Psyche, ähnlich wie Trauerhalluzinationen.«
»Also, dass ein Angehöriger …«
»… den Toten sieht oder ihn reden hört, ja. Das ist so allgemein verbreitet, dass es kaum pathologisiert werden kann.«
Mikael erinnerte sich an seinen Vater, der ermüdend oft von nächtlichen Besuchen seiner Frau erzählt hatte, die seit Jahren unter der Erde lag. Sie hat hier neben dem Bett gestanden und gelächelt. Es geht ihr gut. Wie hatte er die kindische Lüge in den Augen seines Vaters gehasst. Er selbst hatte seine Mutter nach ihrem Tod nie gesehen, so sehr er es sich auch gewünscht hatte. Er wusste, dass er auch Saana nicht sehen würde. Wen er verlor, der war weg. Da halfen auch keine Opfer.
»Denken Sie daran,
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