Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
gehegt, vor der Heirat etwas von der Welt zu sehen.
Krebs lag bei Saana in der Familie. Mikael erinnerte sich ganz genau, wann Saana zum ersten Mal davon gesprochen hatte. Im Zug von York nach Manchester. Draußen hatte es genieselt. Am Fenster vereinten sich die Regentropfen, bildeten Ströme, die von der Geschwindigkeit gedehnt wurden. Sie waren damals wohl noch kein festes Paar, zumindest hatten sie es noch nicht ausgesprochen. Saana hatte die vom Wasser verwischte Heidelandschaft betrachtet und erzählt, wovor sie sich am meisten fürchtete.
Ihre Großmutter war am Ende spindeldürr gewesen, hatte aber bis fast zum Schluss ihr Lächeln nicht verloren.
Fast. Das war das Schrecklichste, dieses »fast«. Dass ganz zum Schluss die Dunkelheit so tief wurde.Am nächsten Morgen lagen die Fotoalben im Wohnzimmer auf dem Fußboden verstreut, als wären sie erschöpft von all dem Aufspüren vergangenen Lebens und Lichts.
Saana behielt recht: Der nächste Sturm riss die Blätter von den Bäumen. Er kam am Samstag wie aus dem Nichts auf. Blies durch die Straße und die Brandgassen, warf scheppernd die Mülltonnen um und ließ die Baumwipfel rauschen.
In Kairo hätte Mikael die Pyramiden gern in der Nacht, bei Vollmond berührt, aber Saana war todmüde gewesen. Sie hatten noch mehrere Nächte vor sich, sie würden es später nachholen.
An jenem Abend hatte Mikael auf dem wackligen Balkon ihres billigen Hotels Sakkara-Bier getrunken, dem endlosen Rauschen der gigantischen Stadt gelauscht, den zwischen den Häusern hervorlugenden Mond betrachtet und überlegt, was für ein Gefühl es sein mochte, in seinem Licht die Fingerspitzen auf den Stein der Pyramiden zu legen. Sie zu berühren wie ein uraltes, schlafendes Tier, auf dem sich schon Jahrtausende vor ihren Rucksäcken und Sandalen und Berufsplänen Staub gesammelt hatte.
So war es damals gewesen, so war es jetzt, so würde es bis zum Schluss sein. Er stand in dem unsichtbaren Kreis, den Saanas Kompromisslosigkeit zog, wegen einer Laune des Schicksals, einer Verkettung von Ereignissen. Die Welt außerhalb des Kreises war voller Rätsel und Möglichkeiten, um deretwillen auch in diesem Moment Millionen und Abermillionen Pupillen sich erweiterten, Herzschläge spürbar wurden und Finger Haut und Steine streichelten.
Aber in Saanas Kreis lagen das Schicksal und das Gewicht der Trauer, das er tragen musste. Wegen der Vögel. Wegen der Dunkelheit im feststeckenden Lift. Wegen des Zufalls.
Opfer.
DIE OPFER
28
»Reiß dich zusammen«, sagte Reijo am Morgen nach dem Besuch der Deutschen, als sie im beißend grauen Frost rauchten und denselben Randbezirk der Stadt, dieselben grauen Häuser betrachteten. Nicht, dass das Stadtzentrum etwas Besseres zu bieten gehabt hätte. Die ganze Stadt schien zusehends zu altern, sich in Morast und Trümmer zu verwandeln.
Reijo beugte sich vor, wollte Olavi dazu bringen, ihm in die Augen zu sehen. »Gräm dich nicht um diese Frau«, sagte er. »Der Krieg reinigt, aber zuerst fordert er seine Opfer. Der Krieg ist schmutzig, aber heilsam wie eine Wurmkur.«
Olavi gab keine Antwort, sondern zog heftig an seiner Zigarette und starrte eine streunende Katze an, die ganz und gar von Schmutz bedeckt war. Sie dachte bestimmt nicht über ihre Würmer nach, während sie sich putzte.
Reijo stieß die Stiefelspitze in die Erde.
»Die Erde trinkt Blut, bis sie gesättigt ist, Olavi. Da darf man nicht an einen oder fünf oder auch hunderttausend Menschen denken. Das ist das Rad der Geschichte. Wir sind hier und tun, was getan werden muss, für die Zivilisation. Wenn der Russe die Stadt überrollt, dann überrollt er ganz Europa.«
Noch einmal schlug der Stiefel auf die Erde. Das Geräusch, das dabei entstand, war nur ein schäbiges schlammiges Platschen. Im Hintergrund begannen die Geschütze ihre Morgenandacht.
Olavi ließ die Kippe fallen, die leise zischte. Er betrachtete die Erde, dachte an all das Blut.
Reijo irrte sich. Olavi grämte sich nicht um die tote Frau, sondern um die lebende. Vergeblich versuchte er, sich vorzustellen, wie eine ganze Stadt sich in einen See verwandelte. Er sah nur das Fahrrad, das auf dem Grund des Sees verrostete.
Am nächsten Morgen wurde ihre gesamte Abteilung gleich am Morgen auf Wagen verladen. Niemand wusste, wohin die Fahrt gehen sollte, aber natürlich redeten alle von der Front. Schließlich hielten sie irgendwo in der Vorstadt, wo ein deutscher Unteroffizier sie von der Ladefläche auf die Straße
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