Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Achseln.
»Sie stellen die Diagnose, wir pflegen.«
»Was halten Sie von der Tatsache, dass bei Finne kein Medikament anschlägt?«
»Solche Fälle gibt es eben.«
»Aber bei diesem Mann ist alles probiert worden«, sagte Groos. »Absolut alles. Er hat so viele Neuroleptika geschluckt, dass die Pharmakonzerne ihm einen Orden verleihen müssten. Von den heutigen Therapieformen bleibt nur noch die Chirurgie übrig, aber die kommt wohl nicht infrage.«
»Lobotomie?«
»Stereotaktische Hirnoperation. So lange kann Ihre Ausbildung doch nicht zurückliegen.«
»Jedenfalls ein irreversibler Eingriff.«
»Und teuer«, sagte die Groos. »Deshalb lohnt er sich nicht.«
»Wollen Sie andeuten, Finne wäre gar nicht schizophren?«
Groos verschränkte die Arme und machte eine selbstzufriedene Miene, als hätte sie saftigen Klatsch zu bieten.
»Jokela hat gesagt, paranoide Schizophrenie sei die einzige mögliche Diagnose. Das ist die eine Art, zu diagnostizieren. Man nimmt das Namensschild, das als Einziges infrage kommt. Als wären alle Namensschilder schon erfunden. Ich bin dagegen der Ansicht, wenn eine Diagnose nicht passt, dann passt sie nicht.«
»Sie würden also einfach sagen, Olavi Finne ist nicht krank?«, fragte Mikael. »Sie würden ihn in ein Altersheim schicken? Oder ins Gefängnis?«
»Nein, nein, er gehört schon hierher«, erwiderte Groos. Sie sah eine Weile vor sich hin, als hätte sie den Faden verloren.
»Habe schrecklichen Durst«, murmelte sie nach einigen Momenten kaum hörbar.
»Möchten Sie Wasser?«, fragte Mikael verblüfft.
Ohne die Antwort abzuwarten, nahm er einen Plastikbecher aus der Halterung und füllte ihn. Groos lächelte dankbar und trank den Becher fast in einem Zug leer.
»Das eigentliche Problem besteht darin«, fuhr sie dann fort, »dass die Psychiatrie der jüngste Zweig der Medizin ist, und das merkt man. Bei der Präzision unserer Krankheitsklassifizierungen würde kein Chirurg operieren. Und ehrlich gesagt, unser Gesundheitsbegriff ist auch nur Vereinbarungssache. Wenn ein Patient Tischtennis spielt und weiß, welcher Wochentag heute ist, könnt ihr vereinbarungsgemäß in euren Bericht schreiben, dass er Fortschritte macht.«
»Ist mir recht«, sagte Mikael und schüttelte die Hände. Das verbliebene Desinfektionsmittel kühlte die Haut. »Und ein Patient, der Tischtennis spielt, ist mir allemal lieber als einer, der mit seiner eigenen Scheiße Blumenmuster an die Wände malt wie Huumonen auf Station D.«
Hannele Groos lachte. Mikael mochte es. Das Lachen. Und dass die Frau Tod und Verrücktheit so gering achtete.
»Ich hatte in der Oberstufe einen furchtbar anstrengenden Philosophielehrer«, erzählte sie. »Vesa Aarnio. Ein Philosophder alten Schule, der überzeugt war, dass man im antiken Griechenland keine minderjährigen Knaben vernascht, sondern bis zum Sonnenuntergang unablässig philosophiert und alles infrage gestellt hat. Ich glaube, es war sein ewiger Zweifel, der mich dazu bewogen hat, Medizin zu studieren. Da weiß man immerhin, ob ein Patient geheilt ist oder nicht. Dachte ich jedenfalls, bis ich mich auf Psychiatrie spezialisiert habe.«
Groos nahm einen Zettel vom Tisch und fischte aus dem Stiftebehälter einen rosa Filzstift, mit dem die Patientenpost markiert wurde. Ein kleines Kreuz in der rechten Ecke bedeutete, dass der Brief überprüft werden musste, bevor er abgeschickt oder dem Patienten ausgehändigt wurde. Groos zeichnete mit größter Sorgfalt einen Kreis auf den Zettel.
»Er hat diese verrückten Tests mit uns gemacht.«
Sie reichte Mikael den Zettel.
»Schauen Sie mal eine Weile drauf, so nah, dass Ihre Nase das Papier fast berührt.«
Mikael schnaubte, nahm aber den Zettel und tat wie geheißen.
»Wie lange?«, fragte er. »Ich komme mir blöde vor.«
»Noch eine Weile.«
Mikael starrte auf den Kreis. Helminens Schnarchen ertönte so regelmäßig wie Glockenschläge.
»Das reicht«, sagte Hannele Groos. »Und jetzt sehen Sie hier rüber.«
Mikael tat es. Im Halbdunkel des Aufenthaltsraums schwebte ein rasch verblassender Kreis.
»Ein Nachbild«, sagte er. »Na und?«
»Existiert das, was Sie sehen?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie das?«
Der Kreis tauchte sekundenlang wieder auf. Er schwebte wie ein Strahlenkranz um Groos’ Kopf.
»Na, wenn ich versuche, ihn anzufassen, ist er nicht da«, sagte Mikael.
»Existiert die Sonne?«
»Ja.«
»Berühren Sie sie oft?«
»Nein … aber sie existiert nun mal.«
»Eine
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