Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
sitzen.
Mikael spähte durch das Türfenster in Finnes Zimmer. Das Bett war leer, und die Decke hing über den Rand bis auf den Boden. Er öffnete die Tür, überprüfte jeden Winkel des Zimmers, hätte sich beinahe gebückt, um auch unter dem Bett nachzusehen. Dann ging er weiter zum Fernsehzimmer des Männerflügels, wo drei Patienten vor dem Bildschirm saßen. Ihre Köpfe drehten sich nach ihm um, als er sie grüßte. Laukkanens einsames Lachen hallte im Raucherzimmer wie in einem Metallcontainer.
Finne stand links vom Fernseher und blickte zum Fenster hinaus. Er war angezogen und hielt sich freiwillig außerhalb seinesZimmers auf, was äußerst selten vorkam. Von weit her, aus dem Aufenthaltsraum, drangen die Stimmen der Kollegen von der Frühschicht. Mikael stellte sich neben Finne und versuchte zu erkennen, was die Aufmerksamkeit des Mannes fesselte.
»Wie geht es?«, fragte er.
Er war sich der Patienten hinter sich bewusst, versuchte aber, so zu tun, als wären sie Zimmerpflanzen.
Finne wandte den Blick nicht vom Fenster ab.
»Ich habe Angst«, antwortete er.
»Was macht Ihnen Angst?«
Finne seufzte schwer, aber irgendwie zu schnell, als hätte er eigentlich keine Zeit, sich zu beklagen, müsste es aber tun.
»Wie es weitergeht. Ob die Anzahl der Opfer richtig war und so weiter. Priester dürfen in diesen Dingen keine Fehler machen.«
Mikael stützte sich auf die Fensterbank und klopfte mit den Fingern auf den kalten Stein.
»Ist der Opferglaube nicht ein bisschen albern? Wie ein Regentanz. Wenn man lange genug hüpft, regnet es irgendwann.«
Finne schüttelte den Kopf. Die Bewegung war ungewöhnlich energisch.
»Sie lieben Opfer.«
»Wer?«
»Diejenigen, die uns vorangegangen sind. Unsere Lieben. Sie trinken Blut wie kleine Kinder Milch. Alle wollen Opfer. Auch die Erde. Jeden Abend verschluckt die Erde sie wie einen Klumpen geronnenes Blut.«
Beim letzten Wort spannte sich Finnes Hals, als wäre ihm der Gedanke widerwärtig.
»So ist es eben. Dieses Rad ist etwas größer, als ihr Balsamierer es euch vorstellen könnt.«
Das Gesicht des Mannes schien in seinem eigenen kranken Licht zu glühen, es brauchte weder die Lampen der Klinik noch die Sonne auf dem Hof.
»Wofür?«, fragte Mikael und war im Begriff, über die Schulter zurückzuschauen, spürte aber, dass er den Blicken der Patienten nicht begegnen wollte.
»Wofür was?«
»Wofür brauchen sie Blut?«
Finne blickte entgeistert auf einen Punkt neben Mikaels linkem Ellbogen.
»Sollen sie etwa Pisse trinken?«, fauchte er. »Mit dem Kopf nach unten in der Finsternis wandeln, Pisse trinken und Scheiße essen? Das wünschst du deinen Lieben? Ich bin froh, dass ich nicht dein Angehöriger bin.«
»Nun beruhigen Sie sich mal.«
Mikael malte sich aus, wie er den Kopf des Mannes gegen die Scheibe schlagen würde. Er würde nicht zerquetscht werden wie die Wespe, sondern das Glas durchbrechen. Dabei würde die glatte Haut aufbrechen. Er war es selbst, könnte Mikael behaupten.
»Um seinen Lieben zu helfen, muss man Opfer bringen«, sagte Finne in die Stille. »Wenn überhaupt etwas klar ist, dann das.«
Sie blickten eine Weile schweigend hinaus. Finnes Atem ging heftig, und sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, wie sie alte Männer zogen, wenn sie bei schlechtem Wetter spazieren gingen.
»Es ist eine Frage des Willens«, fuhr Finne schließlich fort. »Die Lieben bleiben erhalten, solange wenigstens ein Mensch für sie opfert.«
Mikael drehte sich um und machte zwei Schritte. Lachte auf. Betrachtete die Patienten, deren Gesichter leer waren. Er merkte, dass die Digibox das Bild so angehalten hatte, dass der Kopf des Quizmasters vom Rumpf getrennt war. Die Zuschauer schienen sich überhaupt nicht daran zu stören. Mikael nahm die Fernbedienung und wechselte ein paar Mal den Kanal, bis das Bild sich wieder zu bewegen begann.
»Deine Frau«, sagte Finne.
Mikael kehrte aus weiter Ferne in das Zimmer und zu sich zurück. In seinem Kopf flimmerten Zahlen, schwarze Augen und eine verschwommene Szene, in der er sich auf dem Parkplatz der Klinik mit Stefu prügelte.
»Was hast du gesagt?«, fragte er.
»Du solltest an sie denken.«
Finne brachte nicht einmal den Respekt auf, den Kopf zu drehen und ihm in die Augen zu sehen.
Mikael ließ die Fernbedienung auf die Illustrierten fallen, die auf dem Tisch herumlagen, und trat hinter Finne. Er wusste, dass die Patienten hörten, was die Pfleger redeten. Zerstreut weitergegebene
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