Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
Biddy, »du hast dich für die Tageszeit ja schon ganz schön herausgeputzt.«
Der kleine Junge seufzte affektiert. Er klapperte mit den blaubestäubten Lidern und legte sich die gespreizten Finger auf die Brust. »Du meinst das hier? Das ist doch nichts. Der gute Schmuck liegt im Safe.«
Für Winn war Daphne ein fremdes Wesen, eine Schamanin, eine Schlangenbeschwörerin oder charismatische Priesterin, eine Abgesandte aus einer fernen Region menschlicher Existenz. Mit dem Verstand zu wissen, dass sie sein Fleisch und Blut war, reichte nicht, um es auch wirklich zu glauben. Es gab nichts, woran er sie spontan und unwillkürlich als Produkt seines Leibes erkannte. Dabei bemühte er sich durchaus. Er hatte ihre Windeln gewechselt und sie nachts herumgetragen, wenn sie schrie, und matschigen Brei in sie hineingelöffelt. Und natürlich liebte er sie, aber sie wurde ihm mit der Zeit immer fremder, und seine Liebe zu ihr war nicht tröstlich, sondern machte ihn erschreckend durchlässig, als hätte er verborgene Poren, durch die Sehnsüchte und Gefühle von Ausgeschlossensein in ihn eindrangen. Beklommen versteckte er sich hinter seiner Zeitung und stellte sich ein Haus vor, in dem zwei Daphnes, eine Biddy und nur ein Winn lebten.
»Daddy«, kam die hohe Stimme von der anderen Seite des Tisches. »Bin ich eine Prinzessin?«
»Nein«, sagte Winn. »Du bist ein sehr nettes kleines Mädchen.«
»Werde ich irgendwann eine Prinzessin?«
Winn senkte die Zeitung ein wenig und sah sie an. »Das hängt davon ab, wen du heiratest.«
»Wieso?«
»Na, für eine Frau gibt es zwei Möglichkeiten, eine Prinzessin zu werden. Entweder sie wird als Prinzessin geboren, oder sie heiratet einen Königssohn oder einen Fürsten, glaube ich – wobei ich mir nicht sicher bin, ob es überhaupt noch welche gibt. Es ist nämlich so, Daphne, in vielen Ländern, wo es früher Prinzessinnen gab, gibt es keine mehr, weil man dort die Monarchie abgeschafft hat, und ohne Monarchie ist eine Aristokratie sinnlos. In Österreich zum Beispiel wurde das alles nach dem Ersten Weltkrieg abgeschafft. Erbliche Macht ist ungerecht, verstehst du, und sie züchtet Missgunst im einfachen Volk. Kurz und gut, da du nicht als Prinzessin geboren bist, müsstest du einen Prinzen heiraten, und davon gibt es nicht mehr sehr viele.«
Verstimmt steckte sie sich eine Traube in den Mund und wischte sich dann die Finger einzeln an einer Serviette ab. Er nahm seine Lektüre wieder auf.
»Daddy.«
»Was?«
»Bin ich deine Prinzessin?«
»Daphne, bitte.«
»Was?«
»Du klingst wie ein Kind im Fernsehen.«
»Wieso?«
»Weil du so eine Kitschnudel bist.«
»Was ist eine Kitschnudel?
»Eine, die alles mit Zucker überzieht. Davon kriegt man Bauchschmerzen.«
Sie nickte zustimmend. »Aber«, fragte sie weiter, »bin ich deine Prinzessin?«
»Soweit ich weiß, habe ich keine Prinzessinnen. Was ich habe, ist eine kleine Tochter, der die Würde fehlt.«
»Was ist Würde?«
»Wer Würde hat, benimmt sich so, dass andere Menschen ihn respektieren.«
»Haben Prinzessinnen Würde?«
»Einige ja.«
»Welche denn?«
»Keine Ahnung. Grace Kelly vielleicht.«
»Wer ist das?«
»Sie war eine Prinzessin. Zuerst war sie eine Schauspielerin. Dann hat sie einen Fürsten geheiratet und wurde zur Prinzessin. In Monaco. Sie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
»Was ist Monaco?«
»Ein Land in Europa.«
Daphne dachte einen Augenblick nach. Dann fragte sie: »Bin ich deine Prinzessin?«
»Das hatten wir doch gerade«, sagte Winn ungehalten.
Sie sah aus, als überlegte sie, ob es ihren Interessen dienlicher sei, wenn sie lachte oder wenn sie weinte. »Ich will aber deine Prinzessin sein«, sagte sie mit Tränen in der Stimme. Daphne konnte hervorragend weinen, herzzerreißend und äußerst ausdauernd. Sie war ein zierliches Mädchen mit einer sanften Stimme, aber was ihre Gefühle anging, war sie überraschend handfest. Sie setzte ihre Tränen bewusst ein, ebenso wie ihr Lächeln und Schmollen. Biddy nannte sie Lady Macbeth.
Winn duckte sich hinter seine Zeitung und tat, was jetzt verlangt war. »Okay«, sagte er. »Daphne, du bist meine Prinzessin.«
»Wirklich?«
»Ja, ganz bestimmt.«
Daphne nickte und aß eine Weintraube. Dann neigte sie den Kopf: »Bin ich deine Märchen prinzessin?«
Biddy kam gerade aus der Dusche, als Winn nach ihr suchte. Durch die geschlossene Tür hörte er das Wasser aus- und den Duschvorhang aufgehen. Sie summte etwas vor sich
Weitere Kostenlose Bücher