Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
nassen Element auszeichnete. Seitdem es vor Urzeiten einem Vorfahren, den eine Welle vom Deck der Mayflower gespült hatte, gelungen war, sich an einem Tau festzuhalten und wieder an Bord gezogen zu werden, war ein Ahne nach dem anderen ins Meer gestürzt und, während um ihn herum Tausende ertranken, wieder aus den Wellen gefischt worden. Eine Großtante hatte den Untergang der Titanic überlebt; ein entfernter Onkel hatte im Rettungsboot mit Ernest Shackleton achthundert Meilen über das tosende Polarmeer zurückgelegt; der Kreuzer ihres Vaters war vor Guadalcanal versenkt worden, und er hatte nicht nur sich, sondern auch noch drei weitere Männer gerettet. Ein Foto der Großtante, die verschwommene Vergrößerung eines kleinen Mädchens, das mutterseelenallein auf dem Deck der Carpathia sitzt, in eine Decke gehüllt und offensichtlich sehr einsam ohne sein Kindermädchen (das im Atlantik versunken war), hing in ihrer Eingangsdiele.
Wie dem auch sei, so lange wie Winn Biddy kannte, hatte sie gebadet und war hinterher, wenn nicht geheilt, so doch wenigstens ruhiger, freundlicher gestimmt gewesen. Doch nichts hatte ihn darauf vorbereitet, dass sie ihn diesmal, als sie aus der Wanne stieg, gleich aufsuchen würde – er hatte sich mit seiner Zeitung in seinen Lieblingssessel zurückgezogen –, um ihm zu eröffnen, dass sie für dieses Kind eine Wassergeburt wollte.
»Wie bitte?«
»Eine Wassergeburt. Man bringt das Kind in einer Wannemit warmem Wasser zur Welt. In Frankreich gibt es eine Klinik, die darauf spezialisiert ist. Da fahren wir hin.«
Winn spürte, wie in seiner Kehle ein »Du spinnst wohl« aufstieg. Er hatte Biddy unter anderem deswegen geheiratet, weil sie nicht zu Extravaganzen neigte, und er fühlte sich betrogen. Doch er schluckte nur und sagte: »Klingt mir irgendwie nach Hippies.«
»Ich habe recherchiert. Candace McInnisee hat ihr Jüngstes so bekommen. Und sie schwört darauf.«
»Du hast recherchiert, bevor du von deiner Schwangerschaft wusstest?«
»Wir haben immer gesagt, dass wir zwei wollten, Winn. Und da du nicht derjenige bist, der das Kind zur Welt bringt, weiß ich eigentlich auch nicht, warum du darüber mitreden solltest, wo und wie das geschieht.«
Winn hob die Zeitung und warf sie von sich, eine weiße Fahne, die sich als Zeichen ehelicher Kapitulation auf dem Boden ausfaltete. Er machte die Arme breit. Sie kam zu ihm, küsste ihn auf die Stirn und entschlüpfte ihm, bevor er sie in die Arme schließen konnte.
Livia wurde in Frankreich in einer Wanne mit Wasser geboren, und wie Biddy war sie seit ihrer Geburt wann immer möglich ins nasse Element zurückgekehrt. In der vierten Klasse hatte sie zu Hause erklärt, sie sei sowohl thalasso- als auch hydromanisch, wohingegen Biddy nur hydromanisch sei. Und damit hatte sie recht. Biddys Liebe zu Wasser ging nicht über das Element selbst hinaus, während Livia alle Gewässer liebte, und ganz besonders das Meer und seine Bewohner. Zu Winns Verblüffung hatte sie während ihrer Schulzeit in Deerfield einen Verein zur Rettung der Wale gegründet und ihreSommer auf Inseln in der Arktis verbracht, wo sie Forschern half, Walrosse zu zählen, oder auf Segeljachten, wo sie in den Gewässern um die Hebriden das Verhalten von Delphinen beobachtete. Sie hatte unbedingt auf einem Schiff anheuern wollen, das gegen japanische Walfänger vorging, aber das hatte Biddy ihr zum Glück ausreden können. Jetzt studierte sie in Harvard Biologie und wollte hinterher ihren Doktor machen. Sie zeigte Winn deutlich, dass sie seine Todesangst vor dem Meer für vorsätzliches Theater hielt. Seit sie elf war, hatte sie ein Tauchzertifikat nach dem anderen gemacht und versuchte ständig, Winn ebenfalls dazu zu überreden, obwohl es ihn nicht im Geringsten reizte. Er war ein paar Mal geschnorchelt und dabei einmal versehentlich zu weit hinausgeschwommen, über die Kante eines Riffs, wo die Farborgie aus wogendem, flitzendem Leben urplötzlich senkrecht abfiel und in Schwärze überging. Es war ein Gefühl gewesen, als schaute er aus einem Wolkenkratzer und sähe statt gelber Taxis und Bürgersteigen mit winzigen Menschen nur einen Abgrund.
Winn hatte damit gerechnet, dass Livias Liebe zum Meer vergehen würde wie ihre übrigen Kinderschwärmereien (für Vulkane und Steinesammeln), doch sie hatte sich auch als Heranwachsende eine Ader der Begeisterung für alles Neptunische bewahrt. Sie erspähte Robben und Delphine, die außer ihr niemand bemerkte, und sie
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