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Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Titel: Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Shipstead
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überstanden. Selbst seine Sonnenbrille war noch heil, wenn auch verdreckt. Sie blieben stehen, um einem Jeep zuzusehen, auf dem eine Trage gegen den Überrollbügel lehnte wie ein Surfboard. Ein Sanitäter saß auf dem Beifahrersitz, ein zweiter hockte hinten. In der Ferne blinkten stumm die Lichter eines wartenden Krankenwagens.
    »Er wird schnell wieder auf die Beine kommen, oder?«, fragte Francis.
    »Das hoffe ich mal«, sagte Livia. »Um deinetwillen.«
    »Ich kann nicht sehen, wieso ich schuld sein sollte.«
    »Ich werd’s dir erklären: Du hast eine Axt in dem Wal versenkt, und der Wal ist explodiert.«
    »Woher sollte ich wissen, was passiert? Die haben mir die Axt gegeben. Die haben es erlaubt.«
    Als sie nach dem ersten Chaos aus dem Wasser kam, hatteLivia eine Menschenmenge vorgefunden, die im Kreis um einen Mann stand, der im Sand lag. Im Näherkommen erkannte sie ihn als den Mann im Ölzeug, der auf dem Wal gestanden hatte, als Francis mit der Axt zugeschlagen hatte. Der Mann lag ausgestreckt auf dem Boden, und aus seiner Schulter ragte ein spitzer Knochen wie eine Stecknadel aus einem Schmetterling. Mit dem Zeigefinger deutete er auf Francis und sagte: »Das warst du.« Doch Francis stritt alles ab. Er habe nichts gemacht, sagte er, er sei bloß ein unschuldiger Schaulustiger.
    »Wenn du am Straßenrand einen aufgeblähten Waschbär siehst«, sagte Livia und kletterte über einen Dünenzaun, »läufst du dann auch hin und schlitzt ihn mit der Gabel auf?«
    »Tut mir leid, wenn ich nicht alles über deine dämlichen Scheißwale weiß«, sagte Francis. »Alle schnippelten doch eh dran herum. Wenn nicht ich, dann hätte jemand anders die Schwachstelle erwischt. Wenn man drüber nachdenkt, dann habe ich ihn im Grunde nur von dem ganzen Druck erlöst .«
    Überall auf dem Sand waren riesige Klumpen aus Fleisch und Speck verstreut gewesen. Die gigantischen Organe des Wals mitsamt Röhren, Leitungen und Isolierung hatten offen vor ihnen gelegen: Lungen wie Heißluftballons, Knochen in Dinosaurierformat, ein Fleischkoloss von Herz. Darüber dicke lange Gedärmstränge wie Witzschlangen, die aus einer Dose entsprungen waren. Der aufgespießte Mann hatte einen langen grauen Bart, der unten eckig gestutzt war, und sein Gesicht war vor Schmerz kaninchenhaft verzerrt. Die großen Schneidezähne bissen in die Unterlippe, und die kleinen dunklen Augen schweiften unruhig über den Kreis der Gesichter, die auf ihn herabschauten. Neben ihm kniete einePerson, die Livia für seine Frau hielt. Ihre Hände flatterten hilflos um den Knochen.
    Nach der Anschuldigung hatte Francis Livias Handgelenk genommen und sie mitgezogen. »Ich war es nicht«, sagte er. »Ich schwöre es. Fragen Sie dieses Mädchen hier. Fragen Sie sie.«
    Livia hatte die erbosten, bespritzten Gesichter gemustert. Die meisten sahen aus wie Einheimische, nicht wie Sommergäste. Eine Blondine in einem blutigen Lily-Pulitzer-Kleid hielt zwei kleine weinende Jungen an der Hand; alle anderen hatten faltige, von den langen Wintern auf der Insel gegerbte Gesichter. Eigentlich hatte sie vorgehabt, Francis in Schutz zu nehmen, mehr ihrer selbst als seinetwegen, doch diese ernsten, müden Menschen zu belügen, die Mannschaft eines havarierten Schiffes, erschien ihr undenkbar. Sie zögerte einen kleinen Moment zu lange. Die Frau des Mannes stand auf. Sie war klein und gebeugt, mit einem grauen Topfschnitt und vorgestrecktem Kinn.
    »Du wanderst ins Gefängnis«, sagte sie zu Francis.
    »Das ist ein Missverständnis«, sagte er.
    »Was für ein Missverständnis? Sieh dir an, was du Samuel angetan hast. Sieh dir das an!«
    »Er ist einfach explodiert! Ich hab nichts gemacht. Er irrt sich. Er ist einfach explodiert!«
    Seine Stimme erhob sich über das leise Murmeln der Menge, die begonnen hatte, sich dichter um die Mitte zu schließen. Samuels Frau sah sich fast ein wenig verschlagen um, und als sie sich der Loyalität der anderen sicher war, kniff sie ein Auge zu, verzog die Lippen zu einem schildkrötenschmalen Lächeln und täuschte einen schnellen Schlag vor, der keine Handbreit von Francis’ Kinn endete. Francis wichvor der Faust zurück und trat dabei auf den Gummistiefel eines Mannes, der hinter ihm stand. Der Mann zog den Stiefel schnell weg. Francis stolperte seitwärts und hielt sich an Livia fest, um nicht zu stürzen.
    Jetzt begann die Menge weniger wie Schiffbrüchige auszusehen und mehr einer Bande aus einem mittelalterlichen Dorf zu gleichen, nur dass

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