Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
Sein Leben würde unverändert fortbestehen. Doch jetzt, dachte er, war es vielleicht Zeit für ein kleines Abenteuer nur um des Abenteuerswillen. Vielleicht hatte er all die Jahre unterschätzt, wie erfrischend ein neuer Körper sein könnte. Noch am Morgen hätte er alles darum gegeben, sein kleines Intermezzo mit Agatha ungeschehen zu machen. Doch eben, als sie in der Bar vorausgegangen war, hatte er die Möglichkeit, dass sie miteinander nicht weitergehen würden, kaum ausgehalten. Wenn er das, was ihn juckte, endlich gründlich kratzen dürfte, nur dies eine Mal, würde ihm das nicht vielleicht die ersehnte Erleichterung verschaffen? Und besser noch, er könnte es womöglich tief und ehrlich bereuen – vielleicht brauchte er mehr noch als Sex einen ordentlichen Schrecken, einen Weckruf. Winn leerte den letzten Rest seines Gin Tonic und schnappte sich ein Weinglas vom Tablett eines vorübergehenden Kellners. Er holte Sam Sneads kleinen Umschlag hervor und schüttelte die Tabletten – es waren drei –, fischte eine heraus und schluckte sie hinunter. Ja, er würde der Versuchung dieses eine Mal nachgeben. Natürlich verabscheute er jede Schwäche in sich, aber logisch betrachtet, hatte er die Sünde bereits begangen. Wie viel schlimmer konnte sie durch eine kleine Eskalation noch werden? Nicht viel. Vielleicht überhaupt nicht.
Agatha hatte ihren Platz neben Charlie verlassen. Wohin sie gegangen war, konnte Winn nicht sehen. Er wollte ihr seine Entscheidung gern irgendwie mitteilen – mit einem Zwinkern vielleicht –, damit sie ihre Tanzkarte für den Abend nicht mit Charlie oder, Gott bewahre, abermals mit Sterling füllte. Sterling stand noch immer am Geländer und stierte in den Hafen. Winn dachte an das aufgehende Garagentor, die beiden nackten Leiber. Zwar nahte sein sechzigster Geburtstag, und seine Liebhabertricks hatten Staub angesetzt, aber er war sicher, Agatha jede Erinnerung an Sterling undsämtliche anderen Männer austreiben zu können. Schade, dass Sterling nie etwas davon erfahren würde. Schade, dass er sich dafür auf die Schulter klopfen konnte, Agatha und Livia rumgekriegt zu haben. Beim Gedanken an Livia zuckte Winn zusammen. Vielleicht sollte er sie warnen, dass Teddy im Restaurant saß. Ihm war fast danach, die Fenns zum Gehen aufzufordern. Den Pequod zu vergessen und diesen eingebildeten Laffen zu sagen, dass sie nach Hause gehen sollten, in ihr gemietetes Haus, damit seine Tochter endlich einmal einen schönen Abend haben konnte.
Winn sah sich um. Livia saß mit einem Cocktail allein an einem kleinen Tisch und sah in ihrem schwarzen Kleid aus wie auf einer Beerdigung. Wieder musste er an die Garage denken, doch diesmal sah er nicht Agatha, sondern seine Tochter vor sich.
Sterling schaute auf den Hafen und sehnte sich nach Hongkong. Alle Anlegeplätze waren belegt, die äußersten mit einer strahlend weißen Flotte protziger Motoryachten und prächtiger, vor Teak strotzender Segelschiffe. Die im Hafenbecken auf Reede liegenden Boote schaukelten in den kabbeligen Wellen. Gerade war die Autofähre losgefahren, dick und klobig tuckerte sie um den kleinen Leuchtturm am Hafenausgang. Zwei Möwen segelten im Wind. Der Ausblick war herrlich, aber ihm gefiel die Urbanität von Victoria Harbour mit dem gläsernen Garten aus Wolkenkratzern besser. Er liebte die riesigen, hässlichen Containerschiffe und die roten Segel der Touristendschunken.
Er war nicht in Stimmung für Smalltalk. Er hatte weder das Bedürfnis, sich bei Daphnes Familie einzuschmeicheln, noch zu hören, was seine eigene Verwandtschaft trieb. Ihninteressierte nicht, welche Colleges seine Cousine Annabelle in Betracht zog und was für Erfolge sein Onkel Digbert in der Vorstandsetage feierte. Er spürte den Druck, allerlei Belanglosigkeiten aufzunehmen, damit er sie später wieder ausspucken und seiner Familie zeigen konnte, dass sie ihm wichtig war, dass er sich etwas aus ihnen machte . Gott sei Dank würde er in ein paar Tagen wieder in Hongkong sein, wo er von allen Verpflichtungen frei war. Der Smalltalk mit den anderen Ausländern war ritualisiert; alle kannten die Regeln; er konnte seine Rolle ohne Mühe spielen. Am Plaudern fand er nur Spaß, wenn er ein Mädchen in der Mangel hatte, und auch dann nur zur Befriedigung seiner Jagdinstinkte, der Effekte wegen und der Strategie, bei der man aus Wörtern und Sätzen einen lockenden Pfad anlegte, auf dem er Arm in Arm mit dem Mädchen dahinwandeln konnte. Ins Schlafzimmer, in
Weitere Kostenlose Bücher