Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Titel: Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Shipstead
Vom Netzwerk:
konnte, der ihn aber zu etwas Besserem geführt hätte.
    Die Einfahrt von Jack Fenns Haus war nicht beleuchtet. Winn fuhr zunächst an der Lücke zwischen den Hecken vorbei und musste ein Stück zurücksetzen, erst dann blitzten die Muschelsplitter in der Einfahrt vor seinen Scheinwerfern auf. Die Giebel und Spitzen des Daches verschwanden im auberginefarbenen Himmel. Er stellte das Auto unverschämt dicht vor der Haustür ab. Als er den Motor abschaltete, wurde die Nacht sehr schwarz.
    »Wem gehört das Haus?«, fragte Agatha.
    »Einem Freund von mir.«
    »Gehen wir da rein?«
    »Ja.«
    »Sollen wir nicht lieber hier drinbleiben? Auf dem Rücksitz? Oder könnten wir nicht ein Plätzchen bei euch im Haus finden?«
    »Wo? In der Garage?«
    Sie gab keine Antwort. Er tätschelte ihr noch einmal das Knie und öffnete das Handschuhfach, um eine Taschenlampe herauszuholen, die er immer dort verwahrte. Ohne den Schlüssel abzuziehen, stieg er aus und ging hinten um den Land Rover, um Agatha die Tür aufzumachen. Am Fahnenmastklapperten die Schäkel. Agatha nahm seine Hand, stieg aus und trat auf die Muscheln.
    Die Haustür war abgeschlossen, aber ein Fenster ließ sich ohne weiteres aufschieben. »Nach dir«, sagte er und richtete die Taschenlampe durch die Öffnung.
    »Wenn du meinst.« Sie stemmte sich auf die Fensterbank und streckte ein Bein ins Zimmer, bückte sich und verschwand hinein. Winn erhaschte einen flüchtigen Blick auf lavendelblaue Unterwäsche und die verschrammte Unterseite eines Pumps.
    Livia saß allein draußen auf der Terrasse in demselben Sessel, den sie schon während der Cocktailstunde besetzt hatte, und krallte sich so fest in die Lehne, dass es bis in den Arm hinauf schmerzte. Um sie herum toste der Wind und zerrte Haarsträhnen aus ihren Zöpfen. Etwas zu pressen fühlte sich gut an, irgendwie richtig, genauso wie vorhin, als sie Agathas Finger zwischen die Hände genommen hatte. Wenn sie den Tag noch einmal zurückspulen dürfte, würde sie ihn vermutlich nicht noch einmal brechen, doch zu spüren, wie sie durch eigene Gewalt die Knochen einer anderen brach, hatte etwas Elektrisierendes gehabt. Der Knochen war so leicht gebrochen, beinahe so mühelos wie das Schlüsselbein eines Truthahns, nur dass Agatha beide Hälften behalten hatte: das Glück und das Pech, den Wunsch und die Niete.
    Ihr Vater hatte sie nicht verstanden. Wie sollte er auch? Verbrechen aus Leidenschaft waren etwas, das ihm unmöglich einleuchten konnte. Er lebte in einer ratlosen, unnatürlichen Welt; das hatte er selbst bei seiner Tischrede gesagt, vor allen Leuten. Er war nur wütend auf sie gewesen, weil sie den Ablauf des Tages gestört hatte, und seine Beschränktheit hattebei ihr irgendwie nur Mitleid ausgelöst. Als kleines Kind hatte sie bei einer Segeltour mit Freunden der Familie einmal eine graue Rückenflosse aufblitzen sehen. »Ein Delphin!«, hatte sie ausgerufen, sich die Nase zugehalten und war über Bord gesprungen. Seither waren ihr Zweifel gekommen, ob sie das Tier tatsächlich berührt hatte, aber damals hätte sie unbedingt geschworen, dass sie die gummiartige Haut unter ihren Fingern gespürt hatte, bevor der Delphin fortschwamm. Deswegen hatte sie nicht gehört, wie ihr Vater hinter ihr ins Wasser sprang. Sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, wasserschluckend zu brüllen: »Ich hab ihn berührt! Ich hab ihn berührt!« Auch als er sie schon an seine Brust presste und sie die kleinen harten Knöpfe an seinem Hemd spürte, jubelte sie weiter: »Ich hab ihn berührt! Ich hab ihn berührt!«
    »Sei still, Livia.« Sein Mund war dicht an ihrem Ohr. »Das war eine große Dummheit. Guck mal, was du angerichtet hast.« Livia schaute sich um und sah in der Ferne die großen weißen Segel flattern, als das Boot wendete. »Du hast allen Unannehmlichkeiten bereitet. Du hättest ertrinken können.«
    »Aber da war ein Delphin«, sagte sie, ganz erstaunt, dass er sie nicht verstand.
    Ihr Vater antwortete nicht, und Livia spürte, wie er zu zittern begann. Es war ein warmer Tag, und die oberste Schicht des Wassers war kalt, aber auszuhalten. Sie zitterte nicht. Er zappelte beim Wassertreten unruhig und erwischte sie ab und zu mit einem spitzen Knie, sein Atem ging zu schnell. Aber sie wusste, dass er schwimmen konnte. Sie hatte ihn in seiner roten Badehose im Tennisclub Bahn um Bahn schwimmen sehen, mit absolut regelmäßigen Krauelbewegungenund einem perfekten Purzelbaum bei jeder Wende. Schlagartig kam ihr die

Weitere Kostenlose Bücher