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Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Titel: Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Shipstead
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dass sie eines Tages genauso enden könnte wie sie. Letzteres schien unwahrscheinlich, so unterschiedlich, wie sie ihrem Wesen nach waren, doch ihre Mutter schien von jeher in einer Art Automatikprogramm zu leben, auf einer gut geölten Schiene dahinzurollen, die Livia jederzeit ebenfalls drohen konnte, wenn sie nicht aufpasste. Sie hörte, wie oben eine Tür geschlossen wurde, und ging wieder hinaus zu den anderen.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Dominique.
    »Ja«, sagte Livia. »Mein Vater ist verschwunden, und Mom hat gerade einen Killer auf einen Hummer angesetzt.«
    Dominique ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Er schläft bei den Fischen.«
    »Mein Dad?«
    »Der Hummer.«
    »Ich glaube, er schläft beim Bier in der Garage«, sagte Livia.
    Francis runzelte die Stirn. »Dein Dad?«
    »Der Hummer«, sagten Livia und Sterling gleichzeitig.Livia ging zur Rückseite des Hauses, und Sterling folgte ihr. Indianerschritt hatten sie das genannt, als sie klein war, so als würde sich eine Gruppe Schulkinder allein dadurch, dass sie hintereinander gingen, in einen Trupp Jäger verwandeln, die lautlos durch den Wald schlichen. Sterlings Schweigen lastete auf ihr, schwer von dem, was kommen würde, und sie spürte deutlich das Spiel der Muskeln in ihren Beinen und die federnde Nässe des Rasens unter ihren Füßen. Nebelschwaden verdeckten die Sterne. Sie bog auf den Weg ab, der zur Garage führte, und hörte, wie Sterling hinter ihr stolperte und unsanft auf dem Kies landete. »Scheiße«, sagte er. »Verdammt spitz, diese kleinen Steine.«
    Eine Taschenlampe wäre eine gute Idee gewesen. Sie war weder ausrüstungstechnisch noch psychologisch darauf vorbereitet, in betrunkenem Zustand einen Hummer zu töten, aber Sterling hatte sich erboten, sie zu begleiten und, wie er sich ausdrückte, die Drecksarbeit zu erledigen, und sie war so erpicht darauf gewesen, der Terrasse und der sich dort ausbreitenden übernächtigten Missgestimmtheit zu entkommen, dass sie sofort eingewilligt hatte. Sie wollte die vielversprechende Atmosphäre des frühen Abends wiederbeleben, die unkomplizierte, fleischliche Anziehung, die sich so erwachsen angefühlt hatte, so beidseits erkannt und akzeptiert, die dann aber von der bitteren Erwartung einer Enttäuschung getrübt worden war, als Sterlings Interesse nachzulassen schien. Konnte es sein, dass er tatsächlich schon mit Agatha rumgemacht hatte und sie jetzt noch zum Nachtisch vernaschen wollte? Nein, so etwas würde er nicht tun. Aber sie wünschte sich, er würde ein bisschen mehr den Jäger spielen. Sobald sie außer Sichtweise der Terrasse waren, hätte er sie an sich ziehen und küssen sollen, umdas Eis zu brechen, anstatt einfach nur hinter ihr her zu trotten.
    Durch die Bäume drang nur wenig Licht von der Veranda, und als sie die Hand ausstreckte, um ihm aufzuhelfen, trafen ihre Finger versehentlich auf die weichen Formen seines Gesichts. »Tschuldigung. Wollte dir nicht die Augen ausstechen«, sagte sie.
    »Ist ja nichts passiert.« Er legte den Arm um ihre Hüfte; sie wusste nicht, ob es als Stütze gedacht war oder als Annäherungsversuch. »Auf geht’s. Der Hummer wartet.«
    Als sie in der Garage ankamen, schaltete sie nicht das Licht an, sondern bat ihn stehenzubleiben, und wagte sich allein in die klamm riechende Dunkelheit. Vom Brummen des Kühlschranks geleitet, bewegte sie sich langsam mit ausgestreckten Armen vorwärts. Sie fürchtete sich vor Spinnen und Nagetieren, aber noch mehr davor, wie sie im grellen Licht der Neonröhren aussehen würde: müde, mit verschmierter Wimperntusche und glänzender Nase. Sie stieß sich das Schienbein an einem der Holzböcke, auf denen das Kanu stand, und stieß einen kleinen Schrei aus. »Hat der Hummer dich erwischt?«, fragte Sterling.
    »Nein, nur das Kanu.« Sie machte die letzten blinden Schritte zum Kühlschrank und öffnete die Tür. Die plötzliche Helligkeit war unangenehm, sie kniff die Augen zusammen. Von einem Hummer war nichts zu sehen, nur Bier und Wein und Tetrapaks mit Orangensaft und Literflaschen Tonic, doch dann entdeckte sie das unglückselige Krustentier im Gemüsefach, auf einem Bett aus Seetang, die gesprenkelten lila Scheren schlaff wie die Handschuhe eines k.o.-geschlagenen Boxers. Auf dem Fußboden stand ein Bataillon Bierflaschen, sorgfältig nebeneinander aufgereiht, und Livia nahm an, dassihre Mutter sie aus der Schublade genommen hatte, um Platz für den Hummer zu machen.
    »Ist er tot?«, fragte

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