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Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Titel: Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Shipstead
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etwas von ihr wollen. Als sie sich umwandte und in der Dunkelheit die Richtung zum Ufer einschlug, fühlte sie sich beinahe übermütig, voll freudiger Erwartung. Doch sehr bald merkte sie, dass sie nicht wusste, ob sie in die richtige Richtung ging. Eigentlich hätte es ganz einfach sein sollen, den kurzen Weg aufs Trockene zurückzugehen, doch durch den Nebel herrschte absolute Finsternis. Sie machte ein paar Schritte hierhin, ein paar dorthin, versuchte, der Steigung des Sandes zu folgen, doch dann trat sie plötzlich in ein Loch, und ihr Kleid war bis zu den Oberschenkeln nass. Sie kletterte in die Richtung hinaus, wo sie das Ufervermutete, doch das Wasser wurde immer tiefer. Sie blieb stehen. »Sterling?«, rief sie. Sie hatte das seltsame Gefühl, er wäre verschwunden, auch das Land wäre verschwunden, und sie balanciere am Rand einer gewaltigen Tiefe.
    »Ich bin hier.«
    Seine Stimme war weiter weg, als sie gedacht hatte, und gedämpft durch den Nebel, der sich in winzigen Tröpfchen auf ihrem Haar und ihren Wimpern niederließ. Frierend schlang sie die Arme um sich. Das Wasser auf Waskeke war immer kalt, selbst im Sommer. »Rede weiter, damit ich deiner Stimme folgen kann«, sagte sie.
    Kurzes Schweigen, dann begann er ihren Namen zu singen. »Livia«, sang er, »Livia, Livia, Livia.« Seine Stimme war angenehm und tief, nicht dünn wie Greysons, sondern rau und listig.
    Sie bewegte sich auf ihn zu, und bald ging ihr das Wasser nur noch bis zu den Knien und dann bis zu den Knöcheln. Er verstummte. Sie blieb stehen. »Hör nicht auf«, sagte sie.
    Ein kleines Licht leuchtete auf, wie ein Leuchtturm in weiter Ferne, ein weicher, blasser Kreis im Nebel, der sich dann zu einem Punkt verkleinerte, wie ein Glühwürmchen. Er hatte sich eine Zigarette angezündet. Sie war so nah, dass sie den Tabak riechen konnte und hörte, wie er einen Zug nahm. Das Glühwürmchen flog einen kleinen, verlockenden Schlenker. Aber vielleicht war es auch kein Glühwürmchen, sondern der biolumineszente Köder eines Anglerfisches, der zu einem scharf bezahnten Maul führte. Vielleicht war sie aus einer ganz normalen Nacht in eine Unterwelt tief am Meeresboden gestolpert. »Livia«, sang er wieder. »Livia, Livia.«Winn saß in der Einfahrt, hinter dem Steuer des Land Rover. Er hatte nach einem Versteck gesucht, kleiner und sicherer als das Außengelände, aber nicht im Haus, das bei seiner Ankunft ein so willkommener Anblick gewesen war, nun jedoch drohend vor ihm aufragte wie eine feindliche Festung. Das Schlafzimmerfenster war noch erleuchtet. Wahrscheinlich las Biddy. Der warme, gelb getönte Raum erschien ihm so weit weg, das Bett mit den weißen Bezügen, der blasende Wal aus Holz an der Wand, seine Frau, seitlich aufgestützt, das Gesicht von ihrer Nachtcreme glänzend. Vor einer Weile hatte er Livia und Sterling die Einfahrt hinuntergehen sehen, sie mit einer Taschenlampe und er mit einem Stoffbeutel in der Hand. Normalerweise hätte er sie angehalten, gefragt, was in dem Beutel sei und wohin sie wollten und warum (obwohl das Warum auf der Hand lag), aber an diesem Abend fehlte ihm dazu der Mut und, nach dem Vorfall in der Waschküche, die Autorität. So saß er nun allein im Auto und versuchte, an nichts zu denken. Er wünschte sich seinen Vater herbei. Hätte er sich einen beliebigen Punkt in Zeit und Raum aussuchen dürfen, dann säße er jetzt seinem Vater im Salon des Vespasian Clubs gegenüber, schweigend und mit der Zeitung in der Hand.
    Nach Winns Heirat hatte seine Mutter sich geweigert, das weiße Natursteinhaus jemals wieder zu verlassen, und es vorgezogen, den Rest ihrer Tage in der Abgeschiedenheit des oberen Stockwerks zu verbringen. Wenn er zu einem Abendessen im Ophidian oder einem Geschäftstermin in Boston gewesen war, war er nachts manchmal am Haus vorbeigefahren und hatte vom Bordstein oder vom Rücksitz eines Taxis zum Fenster seiner Mutter hinaufgespäht, das aus der dunklen Masse des schlafenden Hauses herausleuchtetewie ein gespenstisches Sinnbild ungesehenen Lebens. In den zwei Jahren bis zu ihrem Tod hatte sie das Haus überhaupt nicht mehr verlassen, und er hatte sie nur noch dreimal gesehen: zweimal, als sie ihn an ihr vermeintliches Totenlager bestellte, und dann ein letztes Mal, als sie nach einem kränklichen Leben voller Fehlalarme tatsächlich verschied. Selbst am Ende war ihr Zimmer perfekt aufgeräumt, penibel in Ordnung gehalten von ihrer ukrainischen Krankenschwester. Wenn er an seine

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