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Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Titel: Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Shipstead
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bereit, einander Geistergeschichten zu erzählen, fühlte sich Livia wie bei einem Zeltausflug. »Ich war spazieren«, sagte er.
    »Und wo ist Agatha?«, fragte Francis.
    Sterling zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen?« Er wirkte vollkommen nüchtern. Daphne hatte gesagt, er sei wie ein schwarzes Loch, was Alkohol angehe und schlucke das Zeug, ohne dass es irgendwelche Spuren hinterlasse.
    Francis zog die Brauen so hoch, dass sie sich über den Rand seiner Dekorationsbrille hoben. »Wir dachten, sie wäre vielleicht bei dir.«
    »Nein, das war sie nicht.« Er sah Livia an, und in seinen Augen lag etwas, das ihr nicht gefiel. In der kurzen Zeit, seit sie ihn kannte, hatte er entweder eine ausdruckslose, verschlosseneMiene aufgesetzt oder einen messerwetzenden Blick sexueller Taxierung. Das hier war keins von beidem. Er wandte sich ab, nahm ein Bier aus dem Sechserpack unter seinem Sessel und öffnete die Dose. Schaum quoll heraus. Spontan beugte sie sich vor und schlürfte ihn vom Deckel. Als sie sich aufrichtete, hatte er wieder diesen merkwürdigen Blick. Durch den Strudel ihrer eigenen Trunkenheit konnte sie nicht sicher sein, aber es sah aus wie Mitgefühl.
    »Livia.« Ihre Mutter streckte den Kopf zur Terrassentür hinaus. Sie trug einen kornblumenblauen Bademantel und Hausschuhe aus Schaffell. Der Bademantel gehörte ihrem Vater, er hatte dunkelblaue Paspeln und ein Monogramm auf der Brusttasche.
    »Was ist denn?«, sagte Livia unwirsch. War es denn wirklich zu viel verlangt, einfach hier draußen sitzen und die Party genießen zu dürfen?
    Ihre Mutter winkte sie beinahe verstohlen zu sich. »Du musst mir einen Gefallen tun.«
    Livia stand auf. Eigentlich wollte sie Sterling nicht allein lassen, jetzt, wo er wieder aufgetaucht war, aber sie löste sich aus dem Sesselkreis und ging zu ihrer Mutter. Biddy schloss die Tür hinter ihnen. »Hat Daddy dir das mit dem Hummer erzählt?«, fragte sie.
    »Welchem Hummer?« Livia schaute nach draußen. Sterling hatte sich nicht bewegt, aber sie hatte Angst, dass er abhauen würde, sobald sie ihm den Rücken kehrte. Jetzt war die Zeit der nächtlichen Manöver, jetzt wurde belauert, angetäuscht, auf den richtigen Moment gewartet.
    »Dem kranken Hummer.«
    »Welcher kranke Hummer? Ich weiß nicht, wovon du redest.«
    »Als die Hummer geliefert wurden, hat Daddy sie alle in der Einfahrt ausgepackt, und einer sah krank aus.«
    »Er hat sie in der Einfahrt ausgepackt? Warum denn das?«
    Ihre Mutter drehte die schmalen Handflächen nach oben, als wollte sie sagen: Wer weiß schon, was in Daddys Kopf vorgeht? Nur die Lampe über dem Herd war noch an, doch selbst in dem schummrigen Licht sah sie erschöpft aus. Sie sagte: »Ich wusste nicht, was ich mit dem kranken machen sollte, deshalb habe ich ihn in den Kühlschrank in der Garage gepackt.«
    Livia hatte das Gefühl, nicht mehr mitzukommen. »Was?«
    »Ich habe ihn in den Kühlschrank in der Garage gepackt.«
    »Ist er tot?«
    »Ich weiß es nicht. Könntest du dich bitte um ihn kümmern, bevor du schlafen gehst?«
    »Du meinst, ich soll ihn füttern?«
    »Nein.«
    Allmählich durchdrang das Begreifen den Alkoholnebel. »Du willst, dass ich ihn töte?«
    »Wahrscheinlich ist er schon tot.«
    Livia schaute wieder nach draußen. »Hat das nicht Zeit bis morgen früh?«
    Ihre Mutter folgte ihrem Blick. Ihre Hand glitt am Bademantel hoch und hielt den Ausschnitt zu. »Schon gut«, sagte sie. »Ich mache es selbst. Sonst kriege ich die ganze Nacht kein Auge zu. Er tat mir leid. Ich habe ihn in den Kühlschrank gepackt, weil ich mal gehört habe, dass die Kälte sie in eine Art Winterschlaf versetzt.«
    »Warum kann Daddy das nicht machen?«
    »Ich weiß nicht, wo er ist.«
    Ihre Mutter wirkte so verwundbar, fast zerbrechlich, wie sie in dem Bademantel dastand, den Gürtel ordentlich umdie Taille gebunden. Livia fiel ein, dass sie sie nicht gezwungen hatte, sich bei ihrem Vater zu entschuldigen, und fühlte sich dankbar. Sie sagte: »Geh ruhig ins Bett. Ich kümmere mich um den Hummer.«
    Biddy wirkte so erleichtert, dass Livia sich fragte, was mit ihr los war. »Danke«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »Dann bis morgen früh.«
    Livia sah ihr nach, von ihren sexuellen Absichten vorübergehend abgelenkt. Ihre Mutter war ihr ebenso rätselhaft wie Dominique, vielleicht sogar noch rätselhafter, aber sie weckte in ihr weder Neugier noch Neid, nur Zärtlichkeit und Angst – Angst um ihr Glück, ihre Zustimmung, Angst,

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