Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichte Turbulenzen - Roman

Leichte Turbulenzen - Roman

Titel: Leichte Turbulenzen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
Vom Netzwerk:
Gogh bereits zu Lebzeiten dieses Ausmaß an Popularität erlangt. Hätte er sich dann überhaupt noch das Ohr abgetrennt?«
    »Vermutlich nicht.«
    »Verstehen Sie? Jedes Kind kennt van Gogh, weil er sich ein Sinnesorgan abgeschnitten hat. Seine Bilder betrachten wir nicht mehr vorurteilsfrei, sondern immer im Hinblick auf seine Andersartigkeit. Für uns sind es die Gemälde eines Wahnsinnigen. Die Menschen kennen van Gogh im Grunde genommen gar nicht mit beiden Ohren, in ihrer Rezeption ist er ein Mann, der mit nur einem Ohr herumläuft und derart verwirrt ist, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als diese kreiselnden Pinselstriche zu vollführen, egal, ob er einen Himmel oder einen Baum oder einen Tisch malt. Dass er aber womöglich in all diesen Dingen das pulsierende Leben sehen konnte, bleibt vollkommen unerkannt. Vielleicht sollte man – ohne dass ich mich zu sehr in Ihre Arbeit einmischen will – den Leuten einen Vincent präsentieren, den sie so noch nicht kennen. Einen fröhlichen, unversehrten, lebensbejahenden van Gogh. Dadurch würde sich vermutlich ihr Blick und ihre Rezeption seiner Bilder auch noch einmal verfeinern oder sogar ändern. Die Leute würden sie ernster nehmen und vielleicht erkennen, dass hier ein … ein echter Meister am Werk war. Also: Modellieren Sie ihn mit einem oder mit beiden Ohren?«
    »Vielleicht mit beiden. Vielleicht auch nicht.«
    Ivy versuchte, sich ihre Begeisterung für den Mann nicht anmerken zu lassen. Und auch nicht ihre plötzliche Blödheit, die mit einem schwallartigen Ausstoß von Adrenalin im limbischen System zusammenhing. Grinsend zuckte sie mit den Schultern, dann noch einmal. Und noch einmal. Bis sie sich einigermaßen gesammelt hatte und wieder fähig war, ganze Sätze zu bilden. »Vermutlich aber doch mit beiden. Allerdings aus purem Eigennutz. Ich mag das Unversehrte …. Das ist ja nun auch eine ethische Forderung des philosophischen Humanismus.«
    »Ach ja?« Desmond beugte sich etwas zu ihr herüber.
    »Sicher!« Ivy zuckte noch einmal mit den Schultern. Wie ferngesteuert sauste sie in Lichtgeschwindigkeit und unaufhaltsam mit quietschenden Bremsklötzen auf gleißenden Schienen hinunter, die nicht ihre, sondern die von Alices Freund waren – dem ewigen Philosophiestudenten. Zu ihrem eigenen Entsetzen hörte sie sich dozieren: »Die Übereinstimmung zwischen idealistischen Werten und dem alltäglichen Mit …«
    »Ich dachte, wir reden über eine Wachsfigur.«
    »Sicher! Doch irgendwo muss man ja mal mit der Unversehrtheit anfangen.«
    »Woher haben Sie das mit der Unversehrtheit?«
    »Ich weiß nicht.« Ivy wünschte sich nichts sehnlicher, als das ihr Mund aufhörte, Halbwissen herauszuposaunen. »Ich interessiere mich eben für bestimmte … philosophische Themen.«
    »Für den Humanismus?«
    »Besonders für den.«
    Desmond nickte. Ivy zwinkerte verlegen. In der vergangenen Woche hatte sie sich intensiv mit Dave unterhalten, der plötzlich, spätabends, im zu großen Tweedjackett und quietschbunten Adidas-Sneakern, hilfesuchend bei ihr vor der Tür gestanden hatte. »Ich weiß nicht mehr weiter.«
    Eigentlich hatte er von Ivy weiblichen Rat einholen wollen, wie er mit der »bockigen« Alice umgehen sollte, damit es sich nicht ständig zwischen ihnen zuspitzte. Doch Ivy war gar nicht an ihn herangekommen, weil er alles, was sie zu ihm gesagt hatte, unter philosophischen Gesichtspunkten von sich gewiesen hatte, wobei er immer wieder auf den Humanismus zu sprechen gekommen war. In seinem Namen forderte er von Alice Toleranz für mimosenhaftes Verhalten seinerseits. Unterdessen hatte er sich eine Haschzigarette nach der anderen gedreht und, auf Ivys Bettkante sitzend, weggeraucht.
    »Warum das?«
    »Bitte?«
    Ivy lächelte Desmond an. Nachdem Dave gegen drei Uhr nachts ihre Wohnung mit den Worten: »Du darfst Alice niemals verraten, dass ich hier war!« verlassen hatte, war sie an ihr Laptop gegangen, um die wichtigsten Begriffe des Humanismus nachzuschlagen. Beim nächsten Beratungsgespräch mit Dave wollte sie ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Überhaupt verfügte er über die nervtötende Angewohnheit, seinem Gesprächspartner das Wort im Mund herumzudrehen und schon bei den simpelsten Beweisführungen zu behaupten: »Du attackierst mich!«
    Desmond sah Ivy abwartend von der Seite an. Jetzt endlich reagierte sie. »Entschuldigung. Haben Sie etwas gesagt?«
    »Ja. Ich sagte: Ich auch.«
    »Was denn?«
    »Ich mag auch das Unversehrte.«
    Ivy

Weitere Kostenlose Bücher