Leichte Turbulenzen - Roman
lächelte und nahm das Buch zurück. »Unserem alten Vincent van Gogh wurde von einem Besucher das Ohr abgetrennt, weswegen es sein kann, dass unser Manager dafür ist, ihn sicherheitshalber gleich nur mit einem Ohr auszustatten.«
»Verstehe. Wenn’s gut gemacht ist, kann solch einer Verstümmelung ja auch eine ganz eigene Schönheit innewohnen.« Desmonds Blick zuckte zu Ivy, die nun an ihm vorbei aus dem Fenster hinaus in die Nacht sah. Tatsächlich guckte sie direkt in den Himmel hinein und kam zu ihrer großen Verwunderung damit zurecht.
»Dass Figuren bei uns im Haus zerstört werden, kommt allerdings nur sehr selten vor«, gab Ivy zu. »Ich würde sagen, zum letzten Mal während des Zweiten Weltkriegs, abgesehen von Kratzspuren, die die Besucher den Figuren zufügen, um zu sehen, was sich unter der durchscheinenden Oberfläche befindet. Und dem abgetrennten Ohr.«
»Hat man herausgefunden, wer das war?«
»Bis jetzt noch nicht. Es gibt zwar Sicherheitsleute, aber die können ja auch nicht überall gleichzeitig sein.«
»Seltsame Geschichte, finden Sie nicht?«
Als sich der Flieger in eine Kurve legte, tauchten Londons Lichter unter ihnen auf. Der Sinkflug machte Ivy nichts aus, das Landen bedeutete, sich der Erde gleichmäßig zu nähern. Weil sie nicht antwortete, redete Desmond nach einer kurzen Pause einfach weiter: »Das heißt also, Sie sitzen in London fest?«
»Bitte?« Ivy fuhr sich durchs Haar, wobei sich ihr Ring verfing und sie ihre Hand nicht mehr vom Kopf bekam. Das passierte ihr öfter. Im Atelier hatte Willem ihr schon mehrfach helfen müssen, den Ring wieder aus den Haaren zu bekommen. Trotzdem hörte Ivy nicht auf seinen Rat, ihn einfach zu Hause im Schmuckkästchen zu lassen. Na gut. Dann war es eben so, dass sie schon wieder festhing. Schicksal. Nichts geschah ohne Grund, wie Ivy gerade beglückt feststellte und sich innerlich dazu gratulierte, das Schmuckstück nicht abgelegt zu haben. Auch, wenn sie sich mit der Hand am Kopf albern vorkam, hatte ihre Zwangslage durchaus etwas Wunderbares an sich.
»Entschuldigung, aber könnten Sie mir vielleicht helfen? Mein Ring hat sich …«
»Hm?«
»Mein Ring hat sich in meinen Haaren verfangen, ob Sie mir vielleicht helfen könnten?«
»Natürlich! Warten Sie!« Desmond beugte sich zu ihr hinüber. Und Ivy beugte sich in seine Richtung. Vorsichtig zog er an der Haarsträhne, die sich fest um den meergrünen Turmalin gewickelt hatte. Er fuhr fort: »Ich meine, wenn es Ihr Job ist, Wachsfiguren zu modellieren, können Sie das vermutlich nur in London tun, das meine ich.«
Die Armlehne drückte in Ivys Brustkorb, ihr Blick ging hinunter auf die dunkelblaue Ledersitzfläche zwischen ihnen. Sie spürte seine kühlen Finger auf ihrer Haut. Hoffentlich hatte sich ihr Ring gehörig verfangen! »Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht, also, dass ich nur in London arbeiten kann. Wahrscheinlich, weil für mich bisher nichts dagegengesprochen hat. Ich mag London. Und Sie?«
Desmond hatte seine liebe Mühe mit Ivys Fingern, dem Ring und ihren Haaren. Genieß es trotzdem, sagte er sich. Genieß es! Dummkopf! Schließlich gelang ihm die geschickte Entwirrung. »So! Ja, ich bin auch ganz gern in London. Wie gesagt: Meine drei besten Freunde aus dem Studium wohnen in Kensington, aber letztlich mag ich wohl doch lieber die Ostküste. Virginia Beach und noch ein Stück weiter runter …«
Ivy setzte sich mit geröteten Wangen auf. In Kensington? Das war nicht weit von ihr entfernt. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Desmond Gayle.«
»Wie bitte?«
»Gayle. Desmond Gayle.«
Der Name klang ein wenig negativ. Wie Desillusion. Oder Desinteresse. Ivy streckte ihm trotzdem erfreut ihre Hand entgegen. »Halten Sie sich gerne in der Natur auf?«
Desmonds Blick wanderte nach schräg oben, wobei er sich hinter dem Ohr kratzte. »Also, ich gehe gerne an den Strand oder wandern und so. Ja, aber so richtig … Meinen Sie Camping oder so etwas?«
»Keine Ahnung. Irgendwie erinnern Sie mich an ein Stück Wald mit Lichtung und ein paar abgesägten Baumstümpfen.«
»Tatsächlich?«
»Ja, an so ein Stück Kiefernwald mit Lichtung, auf der die Leute picknicken und Bier trinken. Ich heiße übrigens Ivy.«
»An ein Stück Nadelwald, mit Lichtung, auf der Leute Bier trinken. So, so.« Etwas derart Hübsches hatte noch nie eine Frau zu ihm gesagt. Wirklich. Er war gerne ein Stück Kiefernwald mit Lichtung, auf der die Leute Bier tranken. Ivy. Poison Ivy.
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