Leichte Turbulenzen - Roman
heruntergezogen. Das war ungewöhnlich. Schnell drückte sie die schwere Stahltür wieder einen Spaltbreit auf, sodass das Flurlicht als scharfer, schmaler Lichtbalken in den dunklen Werkstattraum hineinfiel. Dann tastete sie weiter nach dem Lichtschalter, der sich rechts neben dem Türrahmen befand. »Willem? Bist du da?«
Ihr Kollege fing meistens schon gegen halb neun Uhr morgens an zu arbeiten, es sei denn, er hatte wieder einen grauenhaften Fahrradunfall im Londoner Straßenverkehr gehabt. Wie im letzten Herbst. Da hatte er sich das rechte Schlüsselbein gebrochen und sechs Wochen weder arbeiten noch angeln können, da sein Arm im rechten Winkel zum Körper hatte eingegipst werden müssen. Seit knapp drei Monaten war er mit diesem Motorradschrauber Jesse James beschäftigt, inzwischen war er ihm vermutlich näher, als es Sandra Bullock oder die komplett tätowierte Michelle Bombshell McGee es je gewesen waren. Willem wusste alles über ihn. Wo er geboren worden war, wie viele Geschwister er hatte, was sein Lieblingsgericht in der Kindheit, in der Jugend und als Gründer von West Coast Choppers gewesen war. Willem konnte sagen, wie viele Pitbulls er besaß, was Jesses Lieblingsfarbe war, ob er gerne kochte und dass er seiner Tochter Sunny »Hush, little Baby« zum Einschlafen vorsang. Willems Anspruch war es, sämtliche Aspekte von Jesse James’ bewegtem Leben in die Nachbildung seiner facettenreichen Persönlichkeit einfließen zu lassen. Er meinte: »Nur so schaffe ich es, Jesse eine vitale und glaubhafte Ausstrahlung zu verleihen. Seine bulldozerhafte Art, das Leben bei den Hörnern zu packen, hat seine einzigartigen Gesichtszüge geprägt, und meine Aufgabe ist es, sie emotional nachzuempfinden.« Ihr Kollege war ein Maniker.
»Willem?«
Ivy bekam keine Antwort. Das alles war recht merkwürdig. Ihre Fingerspitzen fuhren tastend über die glatte Werkstattwand. Da, endlich hatte sie den Lichtschalter. Gerade als sie ihn betätigen wollte, klatschte ihr eine massige Hand auf die Finger. »Wage es nicht!«
»Was soll das?!« Ivy riss erschrocken ihre Hand zurück.
»Bleib cool, Chuck.«
Es war Willem.
»Mein Gott!« Ihr Herz klopfte noch eine Weile aufgeregt weiter. »Können wir bitte das Licht anschalten?«
»Ich muss mich, bevor ich mich an das Kolorieren von Jesse James’ Gesicht mache, total auf ihn einstimmen. Dafür brauche ich absolute Dunkelheit.«
»Seit wann brauchst du Dunkelheit, um dich aufs Kolorieren einzustellen? Normalerweise untersuchst du die Farbverläufe mit der Lupe.«
Ivy machte ein paar Schritte in die vollkommen lichtlose Werkstatt hinein und bewegte sich tastend an dem mannshohen Metallrahmen vorbei, den sie in der vergangenen Woche für Vincents Körper bereitgestellt hatte, hinüber zu ihrer Arbeitsplatte, um dort ihre Harrods-Tüte abzulegen und die Ugg-Boots auszuziehen. Als das erledigt war, angelte sie mit dem nackten Fuß nach ihren Werkstatt-Badelatschen, die irgendwo unter der Arbeitsplatte liegen mussten. Zumindest hatte Ivy sie dort am Freitagnachmittag, bevor sie mit Magenschmerzen, bedrohlich niedrigem Blutdruck und unter dem einschläfernden Einfluss von zwei Vomexpillen zum Flughafen aufgebrochen war, einfach von ihren Füßen fallen lassen. In dem Glauben, dass sie sowieso nicht wiederkehren würde. Plötzlich erklang Willems leicht nölende Stimme direkt neben ihrem Ohr. »Ist die Frage ernst gemeint?«
»Mein Gott, Willem! Hör auf damit!«
»Womit?«
»Dich so anzuschleichen.« Ivy machte einen Schritt zur Seite. »Begib dich an deinen Arbeitsplatz und nimm ein bisschen Abstand.«
»Ist ja gut! Warum bist du denn so gereizt? Hattest du kein schönes Wochenende? Wie geht’s deiner durchgeknallten Schwester? Kommt sie bald mal wieder nach London? Das war so lustig, als sie uns damals in der WG besucht hat und mit diesem – wie hieß er noch? –, diesem Heini aus dem Sun in Splendour – im Treppenhaus rumgemacht hat. Die beiden haben sich ja gegenseitig beinahe ausgezogen. Fünf Jahre muss das jetzt mindestens her sein, was?«
»Keine Ahnung. Kannst du bitte das Licht anschalten? Ich steh ein bisschen unter Druck, mit van Gogh anzufangen. Fortier hat mich eben schon abgefangen und gefragt, wie weit ich bin.«
»Entspann dich.« Willem schien sich wieder etwas von ihr entfernt zu haben. »Wie willst du dich in ihn hineinfühlen, wenn du selbst kurz vor dem Kollaps stehst? Nutz die Gelegenheit, und finde Ruhe in der formlosen Dunkelheit.«
»Ich steh
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