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Leichte Turbulenzen - Roman

Leichte Turbulenzen - Roman

Titel: Leichte Turbulenzen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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schwer ins Schloss, und Ivy saß erneut in vollkommener Dunkelheit. Und da war es. Mit einem Schlag. Vincents Gesicht. Es schwebte direkt vor ihr. Wie ein Hologramm. Er betrachtete sie ruhig aus seinen tiefgrünen Augen. Ivy zwinkerte ungläubig, und das Bild war weg.
    Eilig griff sie in die Luft, dorthin, wo sie ihre Tischlampe vermutete. Sie drückte auf den Lichtschalter und blinzelte, geblendet vom plötzlichen Lichteinfall, auf den flachen Stapel weißen Zeichenpapiers hinunter. Konzentriert ließ sie ihren Blick auf den Papierbögen ruhen, die auf ihrer farbverschmierten Arbeitsfläche lagen. Wenn sie jetzt nicht hinunterging und sich neben den Hotdogimbiss stellte, würde sie Desmond verpassen. Ohne den Blick zu heben, streckte sie den Arm aus und tastete nach dem Marmeladenglas, in dem sie ihre Zeichenbleistifte aufbewahrte. Sie zog einen weichen 6B hervor und machte erst einmal ein paar zügige Striche in der Luft, dicht über das Papier hinweg. Wenn sie jetzt nicht loszeichnete, würde sie sich später nicht mehr an Vincents Anblick erinnern können. Noch sah sie ihn klar vor sich. Hauptsache, Willem kam nicht gleich hereingestürmt und okkupierte sie mit den neuesten Meldungen. Er mochte Fortier nicht sonderlich, was definitiv daran lag, dass er glaubte, er würde auf die untalentierte Chelsy hereinfallen und sie zur Chefbildhauerin befördern. Das war Willems fixe Idee, von der er nicht abzubringen war. »Das würde mich umbringen! Dann würde ich kündigen. Sofort!«
    Ivy schaute auf das weiße, grell reflektierende Papier. Kein Strich durfte jetzt verrutschen. Das war ganz wichtig.
    Endlich traute sie sich, eine sanfte, grausilbrige Linie zu ziehen. Von unten nach oben. Die Linie seiner, von ihr aus gesehen, rechten Wange. Noch einen raschen Strich – ja! – das war’s! Sein hoher Wangenknochen. Noch ein Strich. Seine Stirn. Ivy sah ihn, sie sah ihn! Vincent. Ihre Hand machte immer raschere, immer sicherere Striche und zauberte seine Gesichtszüge aufs Papier. Sie lächelte und legte das erste Blatt zur Seite. Jetzt zeichnete sie ihn schräg von der Seite. Sie sah ihn. Sie sah ihn aus jeder erdenklichen Perspektive. Sie zeichnete ihn, Blatt für Blatt, sodass sie Vincent schließlich dreidimensional vor sich sah. So also hatte er ausgesehen. Ivy streckte sich durch. Wie konnte das sein, dass sie ihn plötzlich so deutlich hatte erkennen können? Durch Willems albernen Trick mit der Dunkelheit?
    Ivy suchte in ihren Unterlagen, die ihr das Amsterdamer Vincent-van-Gogh-Museum zugeschickt hatte, die Kopie der Schwarz-Weiß-Fotografie, die Vincent von hinten auf einem einfachen Holzstuhl zeigte. Von der Stuhllehne ausgehend, konnte Ivy zumindest in etwa die Breite seiner Schultern und die Höhe seines Rückens ableiten. Doch das waren lediglich Anhaltspunkte. Ihre Aufgabe war es, exakt, wirklich exakt zu arbeiten. Ivy nahm eine der Bleistiftzeichnungen hoch und blickte diesen Mann neugierig an. Er war der Mann, den sie in den nächsten Wochen formen würde. »Hallo, Vincent.«
    Sie lehnte sich zurück. Mit wem teilte Desmond sein Glück, seine Freude über seine Begabung? Seit heute Nacht mit einer ehemaligen Managerial-Economics-Studentin von der LSE University im Gästezimmer seiner drei besten Freunde? So eine unbeleckte Studienabsolventin hatte doch gar keine Ahnung, was es bedeutete, aus sich heraus etwas schöpfen zu können.
    Bei ihrem Vater war die Telefonleitung besetzt.
    Und Nathalie nahm nicht ab.
    Also nahm Ivy ihren Mantel vom Haken, zog sich ihre Ugg-Boots an und lief die Treppen hinunter, um sich die nächste halbe Stunde gut sichtbar neben den Hotdogimbisswagen zu stellen und sich mit Alice zum Lunch zu verabreden.
    Collin Fortier lag zurückgelehnt in seinem neuen cremefarbenen Ledersessel, den er sich selbst im August zu seinem fünfundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Für zweitausendvierhundert Pfund hatte er ihn im Internet bestellt und sich in einem zwei Quadratmeter großen Karton direkt ins Büro liefern lassen, um zu verhindern, dass seine Exfrau etwas davon mitbekam. Im Lauf der Trennung hatte sich Madeleine als äußerst raffgierig herausgestellt. Erschütternd raffgierig. So, als sei ihre Ehe eine einzige Qual für sie gewesen, die sie jetzt versuchte durch das Ansich-Reißen gemeinsam angeschaffter Besitztümer wieder wettzumachen. Im Grunde genommen ging alles an sie: das graue Sofa, die violetten Sessel, die Teppiche, er bekam nichts aus dem gemeinsamen Haus. Alles

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