Leichte Turbulenzen - Roman
Thailand. Tja. Die Menschen waren eben verschieden. Jeder hatte so seine Schwachstellen oder Eigenheiten. Gerade war Fortier zum wiederholten Male oben bei der Kollegin mit dem akkurat geschnittenen Bob gewesen, nachdem sie ihn nun schon zum zehnten Mal gelöchert hatte, dringend bei ihr vorbeizuschauen, um sich einen Eindruck von der ballonartigen, grasgrünen Shrek-Figur zu verschaffen. Dieser Comic-Oger füllte beinahe den gesamten Werkstattraum aus, weswegen unten in der Galerie einige Actionfiguren umgestellt werden mussten. Dummerweise fiel Fortier gerade der Name der Bildhauerin nicht mehr ein. Er beugte sich zu Ivy vor. »Es ist mir unangenehm, aber wie heißt die Kollegin da oben im Studio? Die Dunkelhaarige mit dem messerscharfen Scheitel.«
»Chelsy?«
»Exakt!« Erleichtert zeigte er auf Ivy. Ihre Nase war so hübsch. Neulich, bei der Besprechung, hatte er sie ständig ansehen müssen. Irgendwann würde er es ihr sagen. »Sie haben eine so schöne Nase. Könnten Sie mir die vielleicht modellieren? Für meinen Schreibtisch?«
Na ja. Man musste ja jetzt nicht albern werden, obwohl er in Ivys Gegenwart einen Hang zur fröhlichen Albernheit verspürte. Nur dumm – Fortier wurde schlagartig rot – dass er ihr von seinem Beinahe-Flugzeugabsturz erzählt hatte. Wie konnte man nur so blöd sein. Sie zu ängstigen, anstatt sie zu unterstützen. Irgendwann würde er sie zum Lunch … War es erlaubt, als Manager Angestellte zum Lunch einzuladen? Er hatte Verantwortung. Wenn er hier die empfindlichen Gefüge durcheinanderbrachte, würde es Monate oder sogar Jahre dauern, diese entspannte Stimmung wiederherzustellen, für die er berühmt war. Vielleicht würde es ihn sogar seinen Job kosten, nur wegen eines Lunches mit der Frau, die in ihm die poetische Ader erweckte. Die letzte Woche auf der Treppe in ihn hineingestürzt war! Blitzschnell hatte er sie an ihrem Oberarm gepackt und behutsam auf die Beine gezogen. Sie hatte die Zähne zusammengebissen, das hatte er deutlich bemerkt. In ihren Augen hatten Tränen geglitzert. Oha! Er wippte auf seinen Fußballen auf und ab. »Na gut. Übrigens: Ich liebe das Fliegen.«
Diese Feststellung war ein guter Gesprächsabschluss. Selbstbewusst ging Fortier an Ivy vorbei, einige Stufen hinunter. Ein paar Augenblicke sah sie ihm irritiert nach. Sie hatte es gewusst! Dieser Mann war kein Typ, der sich fürchtete. Nicht einmal nach einem Beinahe-Absturz. Wie bekam er das nur hin? Sie hätte ihn gerne gefragt: »Mister Fortier, gibt es überhaupt etwas, wovor Sie sich fürchten?« Doch stattdessen zog sie die ketchuprote Feuerschutztür zur Werkstatt auf.
Collin Fortier drehte sich noch einmal um und blickte zärtlich hinauf zu Ivy, die in der Werkstatttür verschwand. Er atmete tief ein. Da oben war sie. Diese anmutige Frau. Zart und doch drahtig, mit weißen, etwas zu groß geratenen Zähnen und einer seltsamen Mimik. Wenn sie redete, arbeitete ihr gesamtes Gesicht. Ob sie das wusste? Nun verbrachte sie ihren Tag mit diesem schwer schnaufenden Willem, der ständig etwas zu beanstanden hatte. Dass der Getränkeautomat unten in der Kantine nicht funktionierte, dass die Beleuchtung in den Toiletten viel zu grell war, dass im Hof ein Fahrradständer fehlte, dass er endlich einen eigenen Schlüssel fürs Haus bekam und so weiter. Unwichtige Kleinigkeiten. Ansonsten konnte sich Fortier keinen enthusiastischeren Bildhauer vorstellen als ihn. Willem machte seine Arbeit, wie man so sagte, mit Leib und Seele. Ja!
Fortier schlenderte zurück in sein Büro, das sich in der zweiten Etage, direkt über der Galerie, befand. Im Vorzimmer nickte er Nicky zu und verschwand dann in seinem Büro, dessen Wände mit smaragdgrünem Seidenstoff aus Frankreich bespannt waren. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und starrte auf das goldgerahmte Bildnis der Madame Tussaud, das gegenüber an der Wand hing. Ihr hatten sie all das hier zu verdanken. Wie fröhlich und heiter sie aussah. Am liebsten hätte er sie um Rat gefragt. »Was meinst du, liebe Marie, sollte ich Miss Ivy Bachmann zum Lunch einladen? Vielleicht ins Landmark Hotel?« Er würde sich etwas einfallen lassen, um Ivy zum Lachen zu bringen. Einen schönen Ausflug würde er planen, unter einem kleinen Vorwand. Das würde doch wohl noch erlaubt sein, oder nicht?
5.
Ivy tastete nach dem Lichtschalter. In der Werkstatt war das Deckenlicht ausgeschaltet. Vor den Fenstern, die zur Marylebone Road hinausgingen, waren die Rollos
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