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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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leicht zitternden Arm auf das Schulheft. Zum Fenster strömte der Geruch von gemähtem Gras herein. Von der unangenehmen Säure war kaum noch etwas zu riechen.
    Obwohl er versucht hatte, es zu ignorieren, glitt Klaus Bellmanns Blick nun auf das an der Wand hängende Bild der Puppe.
    »Das klingt gut«, sagte er. Und dann fügte er hinzu: »Ich soll dich übrigens herzlich von Elke grüßen.« Doch das war gelogen. Elke, seine zweite Frau, verachtete Hans Bellmann, hielt ihn, nachdem sie einige seiner Arbeiten im Internet gefunden hatte, für verrückt und pervers.
    »Ich kenne keine Elke«, sagte Hans Bellmann trocken. »Hat sie dicke Brüste?«
    »Vater, bitte!«, erwiderte Klaus Bellmann, um rasch zu seinem Thema zurückzukehren.
    Klaus Bellmann hatte sich, nachdem er sein lustlos betriebenes Architekturstudium abgebrochen hatte, unter dem Pseudonym »Brad Cowley« eine Zeitlang als Maler in der Tradition Roy Lichtensteins versucht und großformatige Gemälde geschaffen, auf denen |18| geschlechtslose Torsi über Sprechblasen miteinander kommunizierten. Als sogenannte Trans-Comics hatte er seine von den Farben Gelb, Blau und Weinrot dominierten Bilder selbstbewusst klassifiziert, aber trotz anhaltender Bemühungen keinen Galeristen gefunden.
    Cowley hatte mehrere Serien geschaffen, darunter zwei farbintensive Zyklen, die er »Flucht aus Ithaka« und »Der Fluss des Leidens« betitelt hatte. Seiner späteren Frau hatte er nichts von seinen Malversuchen erzählt; als sie eines Tages die in schwere Decken eingeschlagenen Gemälde im Keller entdeckte, hatte Bellmann ihr erklärt, ein Freund, der für längere Zeit nach Amerika gegangen sei, habe sie vorübergehend bei ihm untergestellt.
    Bellmann suchte den Blick seines Vaters, doch der sah hartnäckig an ihm vorbei zum offenen Fenster hinüber. Plötzlich stockte ihm der Atem, als sein Blick wieder auf die Kopie des Fotos an der Wand fiel. Denn in der mit der hohen, gipsenen Stirn trotzig gegen den Stein drückenden Puppe, deren unverhüllte Pobacken einen gelungenen Kontrast zu ihrem Gesicht darstellten, meinte er plötzlich jenen Torso zu erkennen, der das Auftaktgemälde seiner Ithaka-Serie zierte. Und entsprang der Blick der darauf dargestellten Griechin nicht der gleichen, in sich gekehrten Melancholie? Und was war mit ihrer Körperhaltung? Schmiegte sie sich denn nicht ebenso lockend gegen den Fels, der sein Bild dominierte, den Kopf seitwärts über die rechte Schulter weggedreht? Und ihr Po, was war damit? Ja, auch bei ihm war er bis zum Steiß, wenn auch |19| anders als auf der Fotografie der Puppe, mit einem Tuch bedeckt!
    Verzweifelt dachte er: Wieso habe ich so schrecklich lange gebraucht, um diese offensichtlichen Ähnlichkeiten zu sehen? Und wie oft habe ich wohl an diesem Platz und auf diesem Stuhl gesessen und die Kopie an der Wand angestarrt, ohne dabei auch nur das Geringste zu bemerken?
    Unsinn!, dachte er sogleich. Das ist bloß eine Täuschung. Was haben meine Gemälde mit der Arbeit meines Vaters zu tun? Nicht das Geringste.
    Klaus Bellmann erhob sich abrupt vom Stuhl und lief hinüber zum Fenster. Er atmete mehrere Male kräftig ein und wieder aus. Über die Landschaft draußen hatten sich bereits die Schatten des Nachmittags gebreitet. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, ehe man aufhörte, die Gitterstäbe mit zu sehen, wenn man von hier nach draußen schaute.
    Er wandte sich zu seinem Vater um, der immer noch auf seinem Bett saß. Seine hängenden Wangen blähten sich jedes Mal leicht, wenn er mit offenem Mund Luft holte. Er hatte die noch immer irritierend blauen, nicht sehr großen Augen leicht zugekniffen, so dass sich zwischen den Augenbrauen eine tiefe Furche bildete. Er hätte ihn fragen wollen: Woran denkst du, Vater?
    Der Alte war einmal ein großer, gutaussehender Mann gewesen, der gerne Hüte und lange Mäntel getragen und Eindruck auf andere gemacht hatte. Es gab Leute, die sagten, Klaus Bellmann sehe seinem Vater ähnlich. Sicher, auch er hatte blaue Augen und breite |20| Schultern. Und es konnte auch bei ihm vorkommen, dass sich über seiner Nasenwurzel eine Furche bildete. Dennoch war er ganz anders als der Alte. Sein Vater hatte fotografiert und er gemalt. Sein Vater mochte Hüte und er nicht. Und sein Vater träumte noch immer von einer erotischen Erlösung durch eine Fünfzehnjährige. Er war eben pervers! Sicher hatte sich seine Frau aus dem Fenster gestürzt, weil sie seine Perversionen nicht mehr ertrug. Seinen

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