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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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nachzudenken, ob sein Sohn tatsächlich so |24| groß sein mochte. Und wie er wohl aussah. »Ist ’n toller Bursche.« Er hatte ihn seit seiner Geburt nicht mehr gesehen.
    Sein Freund Fred Osterloh, der ein Schuhhaus in der Fußgängerzone besaß und seit langem von Roberts Existenz wusste, hatte Küppers gedrängt, seinen Sohn endlich zu besuchen. Und aus einer Laune heraus hatte der nach dem fünften oder sechsten Glas geantwortet: »Du hast recht. Langsam wird es Zeit.«
    »Denk doch auch mal an den Jungen«, hatte Osterloh gesagt, »der will doch sicher endlich wissen, wer sein Vater ist.«
    »Am Samstag fahr ich hin!«, hatte Küppers gesagt und seine Ankündigung schon im nächsten Moment bereut. Denn die Vorstellung, einem achtjährigen Jungen gegenüberzustehen, der ihn erwartungsvoll ansah und womöglich Erklärungen von ihm hören wollte, behagte ihm überhaupt nicht.
    Anschließend hatten sie nicht mehr darüber gesprochen und noch lange zusammengesessen. Doch als Küppers am nächsten Morgen mit leichten Kopfschmerzen erwachte und das Sonnenlicht durch die Vorhänge hereinstach, war ihm die Sache wieder eingefallen. Missmutig hatte er sich aus seinem Bett erhoben, war hinüber ins Wohnzimmer getappt, hatte den Sekretär geöffnet, seine alte Brieftasche herausgezogen und aufgeklappt. Aus einem der Seitenfächer zog er ein kleines Farbfoto hervor, das Robert als Säugling zeigte. Ungläubig betrachtete Küppers das Bild. Ob er mir wohl ähnlich sieht?, fragte er sich. Auf |25| der Rückseite hatte er sich seinerzeit die Telefonnummer des Kinderheims notiert.
    Küppers schloss seinen Spind ab, legte sich den Schal um den Hals und sagte: »Schönes Wochenende, Heinz«, und verließ das Kaufhaus. In der Mittagspause hatte er das Kinderheim, das zwei Autostunden entfernt war, angerufen und sein Kommen für den nächsten Tag angekündigt. »Ich fahre gegen zehn los und werde so gegen halb eins da sein. Sagen Sie das meinem Sohn.«
    »Der wird sich aber freuen!«, hatte die Frauenstimme noch geantwortet. Küppers hatte den langgestreckten, sich an die terrassenförmig ansteigenden Weinberge schmiegenden Flachbau, in dem die Kinder untergebracht waren, wieder vor sich gesehen. Als er den Jungen seinerzeit in die Obhut der Pflegerinnen gegeben hatte, hatte er seinen Blick über das kleine, von weitgestreckten Wiesen dominierte Tal schweifen lassen, in das sich die Dorfstraße mit ihren Kurven eingrub wie ein dunkler Riss in eine grüne Tischplatte.
    Als er am nächsten Morgen im Wagen saß und die unwirtliche Landschaft mit ihren entlaubten, ihn an Grabkreuze erinnernden Bäumen vorbeizog, hatte Küppers das Gefühl, auf direktem Weg in die Vergangenheit zu reisen. Und je länger er den Wagen durch den Vormittag über wenig befahrene Landstraßen steuerte, desto größer wurde seine Unruhe. Und so machte er vor einem Wirtshaus halt. Küppers war der einzige Gast, und er setzte sich zu dem Wirt an den Tresen.
    |26| »Ich bin auf dem Weg zu meinem Sohn.«, sagte er und sah sich in dem schwach beleuchteten Schankraum um.
    »So«, sagte der Wirt.
    »Wenig los heute, wie?«, sagte Küppers.
    »Ist noch zu früh«, sagte der Wirt.
    Küppers sah auf die Uhr, es war zehn vor elf. Bis hierher war er gut durchgekommen. Und wenn er sich ranhielt, konnte er zur angekündigten Zeit im Kinderheim sein.
    »Ein Pils«, sagte er und rieb sich die Hände. Als das Bier vor ihm stand, legte Küppers erst einen Finger an den kühlen, goldglänzenden Glasbauch, dann zog er ihn zurück und schnippte gedankenverloren dagegen.
    »Wie alt ist denn Ihr Sohn?«, fragte der Wirt und stellte ein poliertes Glas kopfüber neben einige andere.
    »Acht«, antwortete Küppers, »ist ’n toller kleiner Bursche!« Und dabei war ihm, als hätte er so etwas Ähnliches kürzlich jemanden sagen hören.
    »Meine beiden sind achtzehn und zwölf«, sagte der Wirt. »Der Kleine hat nur seinen MP3-Spieler im Kopf. Immerzu hat er die Stöpsel in den Ohren und ist nicht ansprechbar.«
    »Ja, ja, die Jungs«, sagte Küppers und setzte das Glas an die Lippen. Und nachdem er sein Bier getrunken hatte und sie sich über dies und das unterhalten hatten, sah er erneut auf die Uhr.
    »Noch eins?«, fragte der Wirt, der seine Hand bereits um das leere, vor Küppers auf dem Tresen stehende Glas gelegt hatte.
    |27| »Also eigentlich müsste ich ja«, sagte Küppers und sah nochmals demonstrativ auf seine Uhr, die kurz nach halb zwölf zeigte, »aber ach, was soll’s,

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