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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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leitete seit etwas mehr als fünf Jahren die aus drei Seismologen, einem Assistenten und einem Volontär bestehende Gruppe, und mehr als einmal war es zwischen Hollberg und ihm zu Auseinandersetzungen gekommen. Hollberg hatte eine andere Vorstellung von der Leitung der Gruppe. Außerdem fiel es ihm schwer, sich unterzuordnen.
    Tatsächlich hatte Springer zu Paul Kalder von Anfang an ein besseres Verhältnis gehabt als zu Hollberg, der oft besserwisserisch auftrat und keine Gelegenheit ausließ, ihn zu kritisieren. Dabei hatte Springer seinen Dienst bis zuletzt mit der Gewissenhaftigkeit und der Leidenschaft eines Mannes versehen, der das Glück gehabt hatte, sein Hobby zum Beruf machen zu können.
    Solange er zurückdenken konnte, hatte er sich für das im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtige Geschehen im Erdinneren interessiert. Er vermochte sich nicht vorzustellen, wie Menschen existieren konnten, ohne zu wissen, wie die Erde, auf der sie lebten, beschaffen war und nach welchen Gesetzen sie funktionierte. Wie Steinzeitmenschen nahmen sie Blitz und Donner, Erdbeben und die Gezeiten hin und gaben sich damit zufrieden, dass andere an ihrer Statt wussten, was es damit auf sich hatte. Sie brauchten nicht einmal Götter, um sich ihre Welt zu erklären. Stattdessen lebten sie selbstzufrieden mit ihren Schwarzen Löchern. Seit er die Erdkruste und den Erdmantel studierte und Tag für Tag am Seismographen die Erschütterungen |73| des Erdkörpers verfolgte, hatte er das sichere Gefühl, mehr über das irdische Dasein zu wissen und die komplizierten kosmologischen Zusammenhänge besser zu verstehen. Und irgendjemanden gab es sicher da draußen, der sich ebenso für das Innenleben der Erde interessierte wie er. Das jedenfalls wollte er glauben, wenn er im Fernsehen oder im Radio etwas erklärte.
    »Hast du etwas gegen Frank Hollberg?«, riss seine Tochter ihn aus seinen Gedanken.
    »Ob ich etwas gegen ihn habe?« Springer ruckte an dem Infusionsständer, indem er seine damit verbundene Hand in die Höhe riss. »Hollberg ist …«
    Die Zimmertür wurde aufgestoßen, und die Schwester trug ein Tablett herein, das sie auf dem kleinen Tisch abstellte. »Abendessen, Herr Springer.«
    »Ich geh dann mal«, sagte Mia und erhob sich von ihrem Platz.
    »Nein, bleiben Sie nur«, sagte die Schwester, die ebenso schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war.
    »Es wird Zeit für mich«, sagte Mia und griff nach ihrem Mantel, der auf dem anderen Stuhl lag. Springer setzte sich wieder auf, angelte nach dem Infusionsständer und lief zum Tisch.
    »Nun sieh dir das an!«, sagte er mit Blick auf das Tablett, auf dem ein Teller mit zwei mit Fleischwurst belegten Scheiben Schwarzbrot stand, daneben ein Diabetiker-Früchtejoghurt und eine Tasse Hagebuttentee.
    »Was hast du denn erwartet?«,sagte Mia.»Ein Kalbsschnitzel |74| in Weißweinsoße? Du bist hier im Krankenhaus, Vater, und nicht in einem Restaurant.«
    »Ich bin nicht krank. Ich bin kurz ohnmächtig geworden, das ist alles«, sagte Springer und dachte an den nächsten Schlag, den nächsten Sturz in die Dunkelheit.
    »Bis morgen.« Ohne auf seinen Protest einzugehen, drückte Mia ihm einen Kuss auf die Wange.
    »Ja, ist gut«, sagte Springer, nahm das Tablett und balancierte es einhändig zu seinem Bett.
    Er biss einmal in das Brot, nippte am Tee und löffelte schließlich den Joghurt. Anschließend trug er das Tablett zurück zum Tisch und legte sich wieder ins Bett.
    Dann kam die Nacht, und Springer glitt in einen Traum, in dem er sich in einem offenen, mit weißem Samt ausgeschlagenen Sarg liegen sah. Weil er fürchtete, man könne den Deckel schließen und ihn lebendig begraben, hatte er so lange gerufen, bis er irgendwann davon wachgeworden war. Als er schweißgebadet das Licht anmachte, zeigte seine auf dem Nachttisch liegende Armbanduhr kurz nach halb vier an, und er war froh, noch am Leben zu sein.
    Springer hielt trotz des Lichts die Augen geschlossen. Zwischen seinen Lidern registrierte er ein schwaches bräunliches Flimmern. Seit Mona tot war, hasste er es wachzuliegen; zu Hause hätte er auf der Stelle eine Schlaftablette genommen, um nicht länger als nötig seinen Gedanken ausgeliefert zu sein.
    Springer dachte an seine Klassenkameraden von einst. Viele hatten, anders als er selbst, wenig Glück |75| gehabt und ein langweiliges Leben geführt, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Drei waren bereits tot, einer von ihnen hatte sich nach seiner Auswanderung nach

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