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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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raste. Und jetzt hasste er auch das milchig-gelbe Licht der Nachttischlampe auf ihrer Seite, das keine halbe Stunde zuvor allen Konturen noch etwas wundervoll Uneindeutiges verliehen hatte.
    »So sag doch was!«, bat Ronda, die sich nun im Bett aufgesetzt hatte. »Ich bitte dich!«
    Spencer spürte ein plötzliches, unerklärliches Brennen im Hals und fuhr sich ängstlich mit dem Finger über die unebene Stelle.
    »Später!«, sagte er, ohne sie anzusehen. Als er sich hastig angezogen hatte, spürte er, dass er am ganzen |65| Leib zitterte. Er riss die Tür auf und rannte über den langen Korridor ins Freie. Und das war es, woran er sich später erinnern würde: seinen keuchenden Atem und die schmutzigen Steinplatten, über die seine Sohlen schabten.

|66| Fünf
    Das Letzte, woran Springer sich erinnern konnte, war, dass er in die Kamera geblickt und auf einmal das Gefühl gehabt hatte, das darüber angebrachte Rotlicht beginne auf und ab zu tanzen. Dann war ihm schwarz vor Augen geworden, und das Dunkel schlug über ihm zusammen. Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Krankenhausbett, und seine Tochter Mia saß vor ihm und sah ihn erwartungsvoll an.
    Markus Springer war Geophysiker und arbeitete seit siebzehn Jahren im Erdbebenbüro des Meteorologischen Dienstes auf dem Kleinen Feldberg. Aus Anlass eines Bebens der Stärke 5,3 war er ins Fernsehstudio geladen worden, um über die Ursache, die Beschaffenheit und die seismischen Folgen der aufgefangenen Schockwellen zu berichten. Das Epizentrum des Bebens hatte sich fünfzig Kilometer von Freiburg entfernt befunden, und Springer hatte die Erschütterung anhand einer eingeblendeten Graphik zu erläutern versucht, als er wieder diesen Schatten im Auge wahrnahm. Ein kurzes Flackern an den Rändern seines Sichtfeldes, anschließend ein Verschwimmen |67| der Konturen der Gegenstände, und dann wurde es schwarz.
    Das Taunusobservatorium registrierte nicht nur Beben auf der ganzen Welt, sondern überwachte zudem rund um die Uhr die Trübung der Atmosphäre und das Flugverhalten der Vögel, sodass es nicht selten vorkam, dass Springer und seine beiden Kollegen Kalder und Hollberg manchmal sieben und mehr Stunden am Stück vor dem Seismographen saßen und nichts anderes taten, als dessen Bewegungen aufmerksam zu verfolgen.
    Anfangs hatte Springer geglaubt, die kurzen Aussetzer seien eine Folge seines Lebenswandels mit zu viel Arbeit, zu wenig Bewegung und vor allem viel zu wenig Schlaf. Doch seit sich seine Erinnerungsverluste und kurzen Irritationen zu häufen begannen, war aus dem Missmut, den er deswegen hegte, Angst geworden. Bislang hatte er es verstanden, all das zu ignorieren. Nun aber ließ es sich nicht länger leugnen. Springer begriff, dass er ein gesundheitliches Problem hatte, offenbar ein ziemlich gravierendes.
    Springer war nie richtig krank gewesen. Als Junge hatte er die üblichen Kinderkrankheiten gehabt, Masern und Mumps. Später war ihm der Blinddarm entfernt worden. Doch seit ein paar Monaten gingen kleine, unübersehbare Veränderungen mit ihm vor sich. Immer öfter war ihm, als sehe er seine Umwelt wie durch einen unauflöslichen Nebel. Dazu kam seine zunehmende Orientierungslosigkeit. Einmal hatte er morgens den Mantel angezogen und seine Aktentasche gepackt, war aber nicht wie üblich in Richtung |68| Bushaltestelle gelaufen, sondern hinunter in den Keller gegangen, wo er sich fragte, wie er dorthin gelangt war. Ein andermal hatte er ein nahes Bankgebäude betreten und sich, mit dem Einkaufsbeutel in der Hand, gewundert, weshalb er sich nicht im Supermarkt befand.
    Seine Frau war ein Jahr zuvor nach kurzer schwerer Krankheit gestorben, und seither saß Springer nach Feierabend die meiste Zeit im Keller in seinem roten, aus sämtlichen Nähten platzenden alten Ledersessel und sah fern, die Füße auf einer zu einem Fußbänkchen umfunktionierten Apfelkiste. In den oberen Räumen ließ er regelmäßig das Licht brennen und das Radio laufen, wenn er unten bis spät in die Nacht auf die Mattscheibe starrte. So fühlte er sich weniger allein. Und wenn Frauenstimmen zu hören waren, konnte er sich für Momente der Illusion hingeben, Mona, seine Frau, säße oben oder mache sich an irgendetwas zu schaffen. Dass er dadurch häufiger das Klingeln des Telefons überhörte, war ihm egal. Außer seiner Tochter Mia, die sich regelmäßig nach seinem Befinden erkundigte, rief sowieso niemand an. Springer lebte seit dem Tod seiner Frau noch zurückgezogener als

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