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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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früher.
    Der Fernseher stand auf einer alten Tischtennisplatte, an der er mit Mia gespielt hatte. Am nördlichen Ende der Platte türmten sich alte Sportmagazine. Und wo einmal das Netz gespannt war, lagen seine Vogelbücher. Bildbände und Bestimmungsbücher. Denn neben der Geophysik hatte Springer noch eine zweite Leidenschaft: Tauben. Wild- und die von Südosten |69| her eingewanderten Türkentauben sowie die in Wäldern lebenden Hohl- und Turteltauben, die er im Urlaub auf diversen frühmorgendlichen Exkursionen stundenlang mit dem Feldstecher beobachtet hatte. Doch am liebsten hatte er die steingraue Ringeltaube, Columba Palumbus, die er schon oft dabei beobachtet hatte, wie sie in größeren Scharen die Siedlung, in der er wohnte, in Richtung Frankreich oder italien überflog.

    »Was ist passiert?«, fragte Springer und sah seine Tochter an. Er versuchte, sich im Bett ein wenig aufzurichten.
    »Du bist ohnmächtig geworden und warst längere Zeit bewusstlos«, sagte sie und strich über seine Hand.
    »Ohnmächtig? Wie lange?«
    »Fast eine Viertelstunde!«, antwortete Mia und reichte ihm ein Glas Wasser. »Komm, trink etwas.«
    »Ich habe keinen Durst!«, erwiderte Springer und drehte den Kopf weg. »Ich will hier raus! Mir geht es gut.«
    »Unmöglich!«, sagte Mia und stellte das Glas wieder auf den Nachttisch.
    »Aber wieso denn?«
    »Weil sie dich untersuchen müssen, um herauszufinden, was mit dir los ist.«
    »Was mit mir los ist?« Springer machte Anstalten, sich zu erheben. »Ich kann dir sagen, was los ist! Ich bin überarbeitet, das ist los!« Er musste daran denken, wie er ein paar Tage zuvor im Mantel und mit der |70| Aktentasche unter dem Arm im Keller gestanden hatte. »Mir fehlt nichts! Gar nichts!«
    Erst jetzt bemerkte Springer, dass er durch einen dünnen Schlauch, der an seinem Handrücken befestigt war, mit einem Infusionsbeutel verbunden war. Der Beutel hing an einem Metallständer, der neben seinem Bett stand. »Was ist das?«, fragte er.
    »Keine Ahnung, irgendeine Lösung«, sagte seine Tochter und musterte den geblähten Beutel. »Vitamine oder so etwas.«
    »Ich muss aufs Klo«, sagte Springer und streckte entschlossen das rechte Bein unter der Bettdecke hervor.
    »Warte«, sagte seine Tochter, erhob sich von ihrem Sitz und half ihm aufzustehen. Als er, den Infusionsständer neben sich her rollend, ins Bad ging, dachte er: So muss es sein, wenn man am Ende ist und am Stock geht.
    Springer knipste in der kleinen Kabine das Licht an, worauf surrend die Lüftung ansprang, und zog die Tür hinter sich zu. Im Spiegel sah er sein Gesicht.
    Ich sehe aus, als ob ich geschminkt wäre, dachte er mit Blick auf das Hämatom an seiner Wange. Die Lider drückten grau und schwer auf seine Augäpfel. Auf der Stirn zeigte sich neuerdings eine tiefe Furche, und seine eingefallenen Wangen ließen das dahinter fehlende Gebiss erahnen, das in seiner Nachttischschublade lag. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er eines Tages vor dem Spiegel stehen und darin einen Fremden erblicken würde. Er klappte den Deckel hoch, setzte sich auf die Klobrille und schloss die Augen. So |71| blieb er sitzen, bis er seine Tochter rufen hörte: »Ist alles in Ordnung da drinnen bei dir?«
    Er erhob sich, betätigte die Spülung, packte den Infusionsständer und rief: »Ja, ja!« Dann hielt er inne und versuchte sich zu erinnern, was in dem Fernsehstudio geschehen war. Doch was er sah, wenn er zurückzuschauen versuchte, war ein großes schwarzes Loch. Nicht ein Fünkchen Licht darin. Er war vor laufender Kamera umgekippt. Vor einem Millionenpublikum. Es wird schlimmer, dachte er. Wer weiß, ob ich beim nächsten Mal überhaupt wieder zu mir komme.
    Er stieß die Tür auf, machte das Licht aus und lief mit dem Metallständer zurück zum Bett.
    Seine Tochter lächelte angestrengt. »Alles okay?«, fragte sie.
    Springer antwortete nicht, sondern ließ sich mit dem Rücken zu ihr auf das Bett sinken und starrte das über der Zimmertür angebrachte Kreuz an. »Was haben die Fernsehleute gesagt?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.
    »Alle sind sehr besorgt, heißt es«, sagte seine Tochter.
    »Wie hast du es erfahren?«
    »Ich wurde angerufen.«
    »Von wem?«
    »Von Hollberg.«
    »Was hat er gesagt?«
    »Dass du umgefallen bist. Und dass er sich große Sorgen um dich macht. Er sagt, dass es morgen in allen Zeitungen stehen wird.«
    |72| »So, sagt er das.« Springer legte sich hin.
    Springer, inzwischen zweiundsechzig,

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