Leichtes Beben
Spanien erschossen. Andere wie Jens Herweg hatten geschafft, was sie sich vorgenommen hatten. Herweg besaß eine gutgehende Versicherungsagentur und war inzwischen häufiger im Urlaub als in seinem Büro. Und ich?, dachte Springer. Was ist mit mir? Ich liege im Krankenhaus, weil in meinem Kopf etwas außer Kontrolle geraten ist. Doch mit zweiundsechzig muss man eben akzeptieren, dass man fast alles hinter sich hat. Es gibt nur noch wenige wichtige Entscheidungen, die vor einem liegen. Und noch weniger Momente des Glücks.
Am meisten aber machte ihm zu schaffen, dass nichts und niemand auf der Welt etwas daran zu ändern vermochte. Mit dem Gefühl, dass alles verloren war, schlief er ein.
Als er gegen sieben von der Schwester geweckt wurde, ließ ihn sein Gedächtnis erneut im Stich. Er wusste nicht, wer die Frau war, die mit ihm sprach. Er hatte sie schon einmal gesehen, aber was sie hier machte? Er hatte keine Ahnung. Dann verließ sie das Zimmer, und es wurde vollkommen still.
Als sie nach einer Viertelstunde wiederkam und sagte: »Um halb zehn werden Sie zu Untersuchungen abgeholt« und ihm sein Frühstück hinstellte, wusste Springer plötzlich wieder, wer sie war.
Nachdem er sich gewaschen und ein halbes, mit Aprikosenmarmelade bestrichenes Brötchen gegessen |76| und die Tasse Kaffee getrunken hatte, griff er nach dem Infusionsständer. Überrascht stellte er fest, dass die Nachtschwester den leeren Beutel offenbar gegen einen vollen ausgetauscht hatte.
Springer erhob sich, schlüpfte in die Hausschuhe, die Mia ihm gebracht haben musste, und lief hinüber zum Fenster. Mit der rechten Hand schob er den Metallständer neben sich her. Und dann sah er sie auf dem höchstens zwei mal zwei Meter großen Dachvorsprung in ihrer ganzen Schönheit sitzen: Columba Palumbus.
Obwohl er sein Gesicht dicht an die Scheibe hielt, machte die Taube keine Anstalten wegzufliegen. Stattdessen ruckte sie ein paar Mal mit dem Hals.
Springer betrachtete den Vogel. Er hatte den für die Ringeltaube typischen weißen Fleck im grauen Gefieder, die gelb gefassten Augen und den orangefarben auslaufenden Krummschnabel. Dann öffnete er vorsichtig das Fenster.
Noch immer flog die Taube nicht weg. Sie stieß den für sie typischen Ruf aus, ein langgezogenes Duh-duh-duh-duh-duh-duh, das in Springers Ohren klang wie ein Lockruf. War das Tier verletzt und aus diesem Grund flugunfähig?
Er überlegte fieberhaft, was zu tun war. Dann schob er kurz entschlossen die beiden Fensterflügel so weit wie möglich auseinander, riss sich mit einem Ruck die Kanüle aus seinem Handrücken und stieß den Metallständer weg. Sekundenlang beobachtete er, wie die helle Flüssigkeit aus dem herabhängenden Plastikschlauch lief und eine farblose Lache auf dem Linoleumfußboden |77| bildete. Dann hievte er sich aufs Fensterbrett. Und mit den Worten »Ich komme, mein Täubchen!« schob er zunächst das eine, dann das andere Bein auf den abschüssigen Vorsprung, legte sich seitlich gegen die Schräge und streckte den linken Arm nach dem Vogel aus.
»Ganz ruhig«, sagte er, »keine Angst, mein Kleines!« Doch im nächsten Moment dachte er: Was mache ich hier draußen? Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Er starrte in die Schwärze und vernahm ein langgezogenes Duh-duh-duh-duh-duh-duh. Ein Geräusch, das er von irgendwoher kannte und das ihm gefiel. Doch woher, das wusste er nicht.
|78| Sechs
Der Junge war ihm vors Auto gelaufen. Anfangs war er nicht mehr als ein Schatten gewesen, der durch die engstehenden Bäume gefallen war. Dann aber hatte er in den Lichtern seiner Scheinwerfer blitzschnell Gestalt angenommen. Mit aller Kraft hatte Raik Maas auf die Bremse getreten und anschließend hilflos mitangesehen, wie der Motorgrill gegen den Körper gekracht und der Junge zu Boden gegangen war. Mit beiden Händen hatte er das Lenkrad umklammert und gefleht: Lass es nicht wahr sein, bitte, lass es nicht wahr sein! Doch nun lag der Junge verletzt auf der Rückbank und stöhnte, und Raik Maas registrierte, wie ihm der Schweiß in die Augenbrauen lief.
Ohne sich umzusehen, hatte er den Jungen eilig in den Wagen geschafft und war davongefahren. Doch weil ihm die Gegend fremd war, irrte er nun schon eine ganze Weile orientierungslos durch die Nacht.
»Aaahhh!«, stöhnte der Junge. Und Raik Maas rief: »Ich hab keinen Führerschein, verstehst du! Darum können wir unmöglich ins Krankenhaus.« Er schlug ein paar Mal gegen das Lenkrad, ein junger Mann, der |79| ohne
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