Leichtes Beben
Schritten lief sie über den Parkplatz durch den Regen.
|86| Sieben
Mit neunzehn war sie wegen eines zweiundzwanzig Jahre älteren Mannes von zu Hause weggelaufen und ihm in die Toskana nachgereist. Nun lag Julia mit einem Mann im Bett, der vierundzwanzig Jahre jünger war als sie.
Julia hatte Leander über eine Agentur kennengelernt, die Blind Dates vermittelte. Er hatte das Pseudonym des etruskischen Liebesgottes Atunis verwendet, sie die lateinische Bezeichnung ihrer Lieblingsblume, der Pfingstrose: Paeonia.
Julia hielt nichts von festen Beziehungen, hatte kein Interesse am seichten Beieinandersein, das der Zeit des Glücks unweigerlich folgte. Also bevorzugte sie flüchtige Affären, die ihr mittlerweile lieber waren als jede noch so intensive Liaison, die sie später doch nur als anstrengend und nervenaufreibend in Erinnerung behalten würde. Doch weil ihr Verlangen nach Sex größer war als die Zahl der ihr in dieser Hinsicht zur Verfügung stehenden Männer, griff sie regelmäßig zum Telefonhörer, um die Nummer von Lovepoint zu wählen, wo man ihr Profil bereits seit |87| geraumer Zeit im Computer gespeichert hatte. Wenig später befanden sich diverse Partnervorschläge in ihrem E-Mail-Ordner, und Julia hatte die süße Qual der Wahl.
Natürlich ging es Julia in erster Linie darum, einen Partner für lustvollen, befriedigenden Sex zu finden, der darüber hinaus keine Ansprüche an sie stellte; doch das damit verbundene Spiel mit verdeckten Karten faszinierte sie nicht minder. Und so überfiel sie jedes Mal wieder ein erregender Schauer, wenn sie in ihren kirschroten Fiat 124 Sport Spider stieg und zu einem Blind Date mit einem Lancelot oder einem Vulcanus aufbrach.
In einem schwachen Moment, sie hatte damals bereits mehrere Gläser Rotwein getrunken, hatte Julia ihrem drei Jahre älteren Cousin Richard, mit dem sie sich dann und wann zum Essen traf, von ihren Blind Dates erzählt.
Richard Manthey war Schriftsteller und sofort hellhörig geworden. Denn seit er sich in einer handfesten Schreibkrise befand und neuerdings sogar Drogen nahm, um seine Verkrampfung zu lösen, suchte er verzweifelt nach einem Thema für seinen neuen Roman. Seine ersten beiden Bücher waren erfolgreich gewesen, insbesondere sein Debüt »In den Augen der Anderen« hatte ihn praktisch über Nacht bekannt gemacht. Doch nachdem »Unklare Verhältnisse« erschienen und Manthey monatelang mit seinem Buch auf Lesereise gewesen war, hatte er sich leer und ausgelaugt gefühlt. Und als er dann sein nächstes Buch anzugehen versuchte, da hatte ihn plötzlich die Angst |88| gepackt, und er hatte nichts Brauchbares mehr zu Papier gebracht.
»Du musst einfach auf andere Gedanken kommen, Richard!«, hatte Julia zu ihm bei ihrem letzten Treffen gesagt. »Versuch es doch mal mit Sex mit einer Unbekannten! Das hilft! Glaub es mir!«
»Sex?«, hatte Manthey gefragt und Julia mit großen Augen angesehen. Er hatte es mit Alkohol, mit Dope und zuletzt sogar mit Kokain versucht, um den Schalter in seinem blockierten Hirn umzulegen. Alles vergebens.
Seit Julia Kundin bei Lovepoint war, hatte sie das Gefühl, geistreicher, wacher und vor allem ausgeglichener zu sein. Eine Kundin, die seit Jahren teure Sträuße bei ihr kaufte und sich ebenso wie sie zu ihrer Lust auf wechselnde Sexualpartner bekannte, hatte ihr irgendwann die Telefonnummer von Lovepoint zugesteckt und seither ein verschwörerisches Glitzern in den Augen, wenn sie Julias Blumenladen betrat. Und waren gerade keine anderen Kunden im Laden, kam Elsa ohne Umschweife zur Sache und sagte Sachen wie: »Also ich könnte dir da einen Honduraner empfehlen, Schätzchen, der ist ’ne Wucht! Ein Ficker unter dem Herrn, sag ich dir!«
Doch nun lag Julia in ihrem Bett, und neben ihr, gefangen und seltsam gekrümmt im Schlaf, stieß Leander in regelmäßigen Abständen Luft durch seine schöne große Nase.
Zum gekippten Fenster, vor dem sich die leichten Leinenvorhänge bauschten und ein lindgrün gefiltertes Licht einließen, drangen die Geräusche der Straße |89| herein, und Julia verspürte ein heftiges Verlangen nach einer Zigarette.
Leander hatte zwar nicht gehalten, was sein Pseudonym versprochen hatte, nämlich den Zauber eines etruskischen Liebesgottes; doch die Art, wie er sich in dem Moment an sie geklammert und klagend gestöhnt hatte, als er liegend gekommen war, hatte sie nicht nur seltsam gerührt, sondern darüber hinaus Beschützerinstinkte in ihr geweckt. Zudem gefiel ihr,
Weitere Kostenlose Bücher