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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Zweiundzwanzig
    »Genau genommen hat das Beben unsere Ehe gerettet«, sagte Elke zu ihrer Kollegin Claudia und rührte nachdenklich ihren Latte macchiato um, in den sie eben zwei Stück Würfelzucker getan hatte. »Denn wäre der Fahrstuhl nicht stehengeblieben, hätten Klaus und ich wohl nicht mehr zueinandergefunden, und wir hätten ein paar Tage später die Scheidungspapiere unterschrieben.«
    Elke hatte irgendwann angefangen, besser auf ihre Ernährung zu achten, und es sich zur Regel gemacht, vor allem beim Zucker zurückhaltender zu sein. So hatte sie zum Beispiel auf ihre geliebten Blaubeermuffins verzichtet, die sie sich früher regelmäßig zu ihrem Latte bestellt hatte. Ebenso auf die beiden Löffel Zucker, die sie jahrelang morgens über ihre Cornflakes gestreut hatte. Zudem schlug sie neuerdings tapfer die so herrlich klebrig mit Zuckerguss bestrichenen Hefestückchen aus, welche es am Nachmittag im Lehrerzimmer für jene zum Kaffee gab, die ihre AGs abhielten.
    Doch beim Latte macchiato machte sie keine Kompromisse: |229| Ohne die entsprechende Menge Zucker erschien er ihr ungenießbar, pappig und fade, ein verschenktes Erlebnis. Sie leckte den Milchschaum vom Löffel ab.
    Seit nunmehr neun Jahren arbeitete sie als Sportlehrerin. Sie mochte ihren Beruf, doch ihre wahre Leidenschaft war das Schwimmen. Als Vierzehnjährige hatte sie an überregionalen Wettkämpfen teilgenommen und eine Zeitlang geglaubt, eine Karriere als Wettkampfschwimmerin läge vor ihr. Als die Trainer sie eines Tages vor die Wahl stellten, sich ganz aufs Schwimmen zu konzentrieren oder aber ihren begehrten Kaderplatz für eine andere freizumachen, da hatte Elke gemerkt, dass ihr das letzte Quäntchen Ehrgeiz fehlte. Nach ein paar schlaflosen Nächten hatte sie sich schließlich schweren Herzens vom Profischwimmen verabschiedet.
    »Wie lange seid ihr, ich meine du und Klaus, eigentlich schon verheiratet?«, fragte ihre Kollegin und nippte an ihrem Milchkaffee.
    »Elf Jahre«, sagte Elke und legte den langen Löffel auf den Unterteller. Sie und Claudia, die ebenfalls Sport unterrichtete, hatten es sich vor einiger Zeit angewöhnt, nach der Schwimm-AG noch gemeinsam in das nahe Operncafé zu gehen.
    Elke fasste sich in die noch nicht ganz trockenen Haare und knetete sie ein-, zweimal. Dabei roch sie den zarten Vanillegeruch, den die Spritzer Alyssa Ashley, die sie sich in der Umkleidekabine des Schwimmbads auf beide Handgelenke gesprüht hatte, verströmten. Dann griff sie nach ihrer neben ihr auf dem |230| Boden stehenden Handtasche und nahm eine Dose Feuchtigkeitscreme heraus. Mit der Spitze ihres rechten Zeigefingers entnahm sie einen Klecks und platzierte ihn auf dem Rücken ihrer linken Hand, bevor sie ihn verrieb.
    »Vom Chlor krieg ich jedes Mal total raue Hände«, sagte sie halblaut und wie zu sich selbst. Dann sagte sie zu Claudia: »Ich hatte mich bereits damit abgefunden, dass es aus ist zwischen Klaus und mir. Doch jetzt bin ich so froh, dass es nicht so weit gekommen ist.«
    »Und Klaus?«, fragte ihre Kollegin und trank wieder einen Schluck Kaffee. »Der ist jetzt sicher auch happy?«
    »Und ob! Die Vorstellung, sich eine Wohnung suchen zu müssen, hat ihm gar nicht geschmeckt.« Sie trank und sagte dann: »Nein, im Ernst. In diesem Aufzug haben wir einfach plötzlich beide gespürt, dass wir uns noch lieben und dass eine Scheidung die völlig falsche Lösung gewesen wäre.«
    Sie horchte ihren Worten nach, die sie mit ganzem Herzen gesprochen hatte. Doch je länger sie in ihr nachklangen, desto unwahrer erschienen sie ihr auf einmal. Sekundenlang versuchte sie, jenen Zweifel zu fassen, zu begreifen. Bis Claudia, die offenbar ihre leichte Verwirrung bemerkt hatte, sagte: »Das ist ja wirklich eine verrückte Geschichte. Ihr geht zum Anwalt, um die Scheidungspapiere aufsetzen zu lassen, und dann versöhnt ihr euch im steckengebliebenen Aufzug.«
    »Ja, verrückt«, antwortete Elke mechanisch. »Aber |231| wir haben beide das Gefühl, noch mal gemeinsam neu anfangen zu wollen.«
    »Toll!«, sagte Claudia, die sich zwei Jahre zuvor unter großen Schmerzen von ihrem langjährigen Freund getrennt hatte. »Eine schöne Vorstellung, noch einmal neu anzufangen und so zu tun, als hätte alles andere, was bis dahin passiert ist, nie stattgefunden.«
    Elke sah sie überrascht an. »Weshalb
so zu tun
?«, sagte sie energisch. »Wir
fangen
doch noch mal neu an, indem wir das Alte hinter uns lassen! Er genauso wie ich!«
    »Und du

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