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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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einen anderen Menschen und nicht als den, den sie seit langem in ihm sah: den selbstherrlichen Besserwisser, der vorgab, zu wissen, was im Leben zählte, sich aber stattdessen im Kleinkrieg des Alltags aufrieb und verlor? Der über ihre Wünsche oft einfach hinwegging und sie ignorierte, wenn sie Aufmerksamkeit und Toleranz erwartete?
    Im Saal verlor sich gerade mal eine Handvoll Leute. Natürlich mochte sie volle Kinosäle lieber, in denen über den Köpfen der Besucher eine erwartungsvolle Spannung lag, solange noch das Saallicht brannte. Doch sie würde sich einfach ganz auf den Film konzentrieren und so schon bald alles andere um sich herum vergessen haben.
    Als junges Mädchen war sie an den Sonntagen regelmäßig mit ihren Freundinnen ins Kino gegangen. Und in einem dunklen Kinosaal hatte sie ihren ersten Kuss bekommen, von einem Jungen, der vier Jahre älter als sie gewesen war.
    Elke hatte sich bereits ein paar Minuten ganz dem schnellen Wechsel der Bilder auf der Leinwand überlassen, als sie im Augenwinkel eine Gestalt neben sich |235| registrierte. Zwei Sitze links von ihr. Zunächst nahm sie nicht mehr als das manchmal sekundenlang erhellte und gleich darauf wieder ins Dunkel abtauchende Gesicht wahr. Doch mit der Zeit schien sich jede der langsamen Bewegungen der Person, wenn sie die Stellung ihrer Beine änderte oder den Arm bewegte, auf sie zu übertragen. Und bald fiel es ihr immer schwerer, auf die Handlung des Films zu achten, der unterdessen begonnen hatte. Gerade als sie sich auf den Film zu konzentrieren versuchte, spürte sie eine Hand auf ihrer linken Schulter.
    Ruckartig wandte sie sich nach links und blickte in das prägnante Gesicht des jungen Mannes aus dem Foyer. »Was fällt Ihnen ein?«,sagte sie zu heftig. Da legte der Mann ihr einfach die Hand auf den Mund und sagte: »Keine Angst!«
    »Nein, ich …!«, erwiderte sie mit weicher Stimme, worauf sein Griff noch ein wenig fester wurde und er sie eindringlich ansah.
    Vorsichtig schob sie seine Hand weg, was er widerstandslos geschehen ließ. Doch dann ergriff er ihr Kinn, führte ihr Gesicht zu seinem und drückte seine Lippen sanft auf ihren Mund. Als er wenig später seinen rechten Arm um ihre Schultern legte, konnte sie seinen Pfefferminzatem riechen.
    »Du gefällst mir!«, hauchte er ihr in gebrochenem Deutsch ins Ohr und berührte es mit seinen Lippen. »Und wie du riechst! So süß!«
    Elke musste wieder an Claudias Worte im Café denken, die plötzlich bitter schmeckten, und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten.
    |236| Als der Mann ihr Gesicht durch leichten Druck seiner rechten Hand zu sich drehte und sich ihr erneut näherte, ohne dass sie ihn anblickte, durchfuhr sie Schwindel und Panik. Sie schloss die Augen und bot dem Mann ihr Gesicht dar, das dieser mit Küssen bedeckte.
    Nachdem der Fremde kurz vor Ende des Films lautlos verschwunden war, hatte sie das Gefühl, seine Hände seien überall gleichzeitig gewesen. An ihrem Hals, unter ihrer Bluse auf ihren Brüsten und zwischen ihren Beinen. Ihr war, als sei sie, wie es ihr einmal als junger Schwimmerin passiert war, bei einer Wende mit dem Kopf gegen die Beckenwand gestoßen und für kurze Zeit ohnmächtig gewesen.
    »Ich glaube immer noch, dass ein Neuanfang möglich wäre«, würde sie zu Claudia sagen, wenn sie sie das nächste Mal wiedersähe. Sie würde Latte macchiato trinken und einen Blaubeermuffin essen.

|237| III

|239| Dreiundzwanzig
    Manthey hatte alles ausprobiert. Alkohol, synthetische Wachmacher, ja, sogar Haschisch hatte er geraucht. Ohne Erfolg. Denn nachdem die Wirkung des Stoffs nachgelassen hatte und er das Geschriebene am nächsten Morgen las, war das Resultat jedes Mal das gleiche gewesen, und er riss das beschriebene Blatt grimmig aus der Schreibmaschine und warf es zu den anderen in den Papierkorb. Er hatte nachts gearbeitet und manchmal am helllichten Tag mit heruntergelassenen Rollläden. Er hatte die Fenster abgedichtet, um sich gegen störende Geräusche von außen zu schützen. Ohne Erfolg. Inzwischen dauerte seine Schreibblockade mehr als zwei Monate, und Manthey hatte keine Ahnung, wie er sie durchbrechen konnte. Das Erscheinen seines letzten Romans lag mittlerweile über drei Jahre zurück.
    So war Manthey die meiste Zeit verzagt, und nachts, wenn er wach lag und auf das Ticken des Weckers lauschte, nicht selten verzweifelt. Ängste suchten ihn heim, schlimmste Ahnungen und Visionen.
    Anfangs versuchte er den Umstand, nichts

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